Hamburg. 150 Minuten Schau am Montagabend: Doppelgänger, Darth Vader, kiffende Flamingos – und ein Stargast aus WG-Zeiten auf der Bühne.
Um was auch immer es sich bei diesem „Udopium“ handelt, von dem auf Udo Lindenbergs aktueller Best-of-Platte und im Tour-Motto die Rede ist: Es muss ein fantastisches Zeug sein. Der Panik-Präsident ist jetzt 76 Jahre alt und tanzt, eiert, schlendert, schaukelt und wackelt am Montag (und Dienstag) zweieinhalb Stunden lang ohne Ermüdungserscheinungen über die Bühne in der Barclays Arena. Wer in den vergangenen Tagen die Altersgenossen Deep Purple im Stadtpark erlebt hat, reibt sich erstaunt die Augen.
Und die haben sowieso einiges zu tun: Lichtdome aus Scheinwerfern und Lasern entwerfen immer neue Dächer über Udo, der am liebsten ganz vorne auf der weit in den Saal ragenden Bühne steht. Hinter ihm wird in der ersten Hälfte eine genau getimte Panik-Revue entfesselt, die zu jedem Song die passende Choreographie nebst Begleitvideos auf der breiten Leinwand präsentiert.
Udo Lindenberg in Hamburg: Barclays Arena ist fast zu klein
Zum Auftakt mit „Woddy Wodka“ purzeln Udo-Lindenberg-Doppelgänger aus der Boeing 747 „Panik 1“, bis der Pilot persönlich erscheint. Mit „Honky Tonky Show“ und „Mein Ding“ gibt es wie 2019 an gleicher Stelle zwei potenzielle Zugaben nebst „Cello“, das von Gaststar Clueso begleitet wird. Sofort dick auftragen, das kann man durchaus machen als Panik-Präsident.
Das Panikorchester, zusammengehalten von Udos treuem Bassisten Steffi Stephan und angetrieben von Schlagzeuger Bertram Engel, muss aufpassen, im Verlauf des Abends nicht unter die Räder zu geraten. Bläsertruppe, Backgroundsängerinnen und -sänger und ein knappes Dutzend immer neu kostümierte Tänzerinnen sowie der Kinderchor Kids on Stage brauchen auch Platz auf der Bühne, die für das ganze Ensemble fast zu klein ist – so absurd das bei einer Halle wie der Barclays Arena auch klingen mag.
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Fast drei Jahre sei er einsam durch die Flure des Hotels Atlantic geschlichen oder Rollschuh gefahren, „allein mit den ganzen Geistern und Gespenstern in dem Laden“, erzählt Udo. „Aber dann kamen von euch so viele Briefe, SMS und Rauchzeichen, und ich habe gemerkt: Wir gehen zusammen da durch. Ich bin ja gar nicht so alleine. Wir halten zusammen, als Panik-Familie“, bedankt er sich bei 12.000 Fans. „Ihr habt mich da durchgetragen, durch die schweren Zeiten.“ Doch wer trägt hier, an diesem Abend, wen, wenn ein Meer aus Handylichtern mit den Bühnenlasern um die Wette strahlt?
Udo Lindenberg zieht in Hamburg "in den Frieden"
Ermutigt vom Zuspruch aus dem vollen Saal widmet sich Udo in den nächsten Songs denen, die zu kämpfen haben mit Diskriminierung, Missbrauch, Gewalt, Rassismus und Krieg. Zum Song „Na und?!“ schwebt eine an AC/DCs „Hells Bells“ erinnernde Glocke über die Bühne, während Udo im Regenbogenlicht ein Nonnen- und ein katholisches Priester-Paar verheiratet.
Mit den Kids on Stage singt er das jetzt 41 Jahre alte, leider immer noch aktuelle „Wozu sind Kriege da?“ sowie „Wir ziehen in den Frieden“. Und mit dem Doppel „Vom Opfer zum Täter/Sie brauchen keinen Führer“ kriegen auch alte und neue Nazis einen mit der Kralle des grauen Panik-Panthers.
Für all diese Lieder gab es immer auch Kritik. An den „Friedensschnulzen“ und am „naiven“ Glauben an eine „Bunte Republik Deutschland“. Nicht wenige frühere Fans (im Westen und im Osten) haben sich mittlerweile abgewandt. Udo sei zu politisch, auch zu angepasst an den Mainstream. Man fragt sich, ob diese Leute Udos Texte und öffentliche Statements seit Anfang der 70er-Jahre überhaupt gelesen oder verstanden haben. Wenn jemand der Alte geblieben ist, dann ja wohl El Panico. Nicht zu vergessen seine sehr diverse Panikfamilie auf der Bühne, in der viele Hautfarben und Geschlechter inklusive transgender vertreten sind.
Udo Lindenberg überrascht in Hamburg mit Stargast Otto
„Einer muss den Job ja machen“, ist seine Devise, auch wenn dieser Song ebenso wie der Klassiker „Ich lieb’ dich überhaupt nicht mehr“ dieses Mal nicht auf der Setliste steht. Im Mittelteil hat es sich das Publikum gemütlich gemacht, aber neben dem Favoriten „Horizont“ hat Udo immer mal wieder ein Ass im Ärmel. Zum Beispiel Gitarristin Carola Kretschmer, die unter größtem Jubel traditionell auf ihrer Epiphone den sterbenden schwarzen Gitarrenschwan spielt.
Oder seinen ehemaligen WG-Mitbewohner Otto Waalkes, der wie 2016 im Volksparkstadion nach seiner Selbstvorstellung „Friesenjung“ gemeinsam mit Udo AC/DCs „Highway To Hell“ verballhornt: „Auf dem Heimweg wirds hell“. „Geile Überraschung“, freut sich Udo. Der Heimweg liegt in weiter Ferne. Es spielt, wenn auch nicht im Onkel Pö, in der Barclays Arena eine Rentnerband. Und die hat Zeit.
Udo Lindenberg: Irres Tohuwabohu in der Barclays Arena
Im letzten Drittel der Show haben die etwa 30 Beteiligten auf der Bühne ihr absolutes „Udopium“-High. Wirkte am Anfang noch alles sehr geplant, scheinen bei „Sonderzug nach Pankow“, „Alles klar auf der Andrea Doria“ und „Candy Jane“ alle nur noch das zu machen, worauf sie gerade Lust haben. Ein irres Tohuwabohu. Es ist, als hätte Zeremonienmeister Udo Lindenberg die Geschichte der – frenetisch mitgesungenen – „Reeperbahn“ mit ihren Rockclubs und Varietés in der Barclays Arena ausgekippt, um zu schauen, was passiert: alles auf einmal.
Dann ist es Zeit für den Abschied. Mit „Goodbye Sailor“ dankt er den in den vergangenen zwei Jahren gestorbenen Wegbegleitern, dem Konzertveranstalter Roland Temme und Produzent Andreas Herbig. Dann muss auch Udo gehen und besteigt eine Mondfähre, die ihn aus dem Saal trägt. Aber seine „Odyssee“ wird weitergehen: „Wir sehen uns ganz bald wieder.“ Dieser Mann hat schließlich noch eine Menge „Udopium“ zu verteilen.
„Udo“ Die Collector’s Edition des Magazins gibt es in der Abendblatt-Geschäftsstelle am Großen Burstah, abendblatt.de/magazine