Hamburg. Seit der Akustik-Diskussion von Jonas Kaufmann ist die Symphonie der Problembär des Hauses. Nun bekam sie eine neue Chance.

Seit ein gewisser Jonas Kaufmann im Januar 2019 bei einer legendär gewordenen Aufführung hörbare oder eher: schlecht hörbare Anpassungsschwierigkeiten an die Akustik des Großen Saals und deswegen gut hörbare Missfallensbekundungen aus dem betrübten Fan-Block hinter der Bühne erleiden musste, ist Mahlers „Lied von der Erde“ der Problembär im Repertoire-Angebot der Elbphilharmonie.

Der auch nachträglich noch schwer verstimmte Tenor, an diesem Abend eindeutig auf dem falschen Standpunkt erwischt, schwor diesem Gebäude danach ab und präferiert seitdem die anders großartige Laeiszhalle. Doch wann immer seitdem dieses Stück im Neubau in der HafenCity programmiert wird, sind die lebhaften Erinnerungen sofort wieder präsent.

Elbphilharmonie: Mahlers „Lied von der Erde“ – in Bearbeitung

Der Branchen-Zufall wollte es nun, dass Sir Simon Rattle genau jenes Spät-Werk im Rahmen einer Tournee mit dem Chamber Orchestra of Europe dabei hatte. Aber: nur fast. Denn auf den Pulten lag nicht das wirklich sehr groß besetzte Mahler-Original, seine mit ihrem Alibi-Namen gegen Zahlenmystik-Aberglaube imprägnierte Neunte, sondern eine Bearbeitung des US-Amerikaners Glen Cortese.

Die sorgt, weil sie hier und da personalreduziert ist, theoretisch dafür, dass die beiden Vokal-Solisten es beim Thema Durchsetzungskraft nicht ganz so schwer gegen das Tutti haben könnten. Praktisch allerdings gelang das bei dem Gastspiel nur teilweise, obwohl die Mezzosopranistin Magdalena Kožená und der Tenor Andrew Staples, wie es sich in diesem Saal dringend gehört, mittig erhöht und zentral hinter dem immer noch nicht allzu kleinen Orchesterapparat platziert waren.

Mahlers Spätwerk dirigiert von Rattle: Mal gelungen, mal schwierig

Um das Ergebnis der zweiten Programmhälfte vorwegzunehmen: Es war musikalisch stellenweise lieblich, anrührend und bis ins Kleingedruckte gelungen, und gleichzeitig stellenweise schwierig. Doch bevor es bei diesem Mahler heikel wurde, wurde es nahezu jenseitig. Mit Strauss’ alterstraurigen, todesnahen „Metamorphosen“ für 23 Solo-Streicher und dem von Strauss geforderten Kunststück, solistisch spielen und gleichzeitig kollektiv fühlen zu sollen, dass dieses Stück, am Ende des Zweiten Weltkriegs als Trümmer-Trauermusik verfasst, einer untergegangenen Epoche wehmütig hinterherseufzt und sich an Bewegendes erinnert.

Rattle verstand diesen Abschied vom Sein als Aufforderung, sich nicht wehrlos mit der unausweichlichen Endlichkeit abzufinden. Mit energischer Zeichengebung bis fast über die Notenpulte der Celli hinweg signalisierte er trotziges Festhalten an dem, was noch ist; die Musik bäumte sich immer wieder und immer stärker gegen ihre Schicksalsschwere auf.

Rattle verbreitet Mahlers Endzeitstimmung in der Elbphilharmonie

Die Klangschönheit des komplexen Stimmengeflechts konnte bei dieser Intensität nicht immer mithalten. Auch, weil Rattle das Tempo des Geschehens im Mittelteil mehr und mehr anzog und so die Temperatur stark erhöhte. Danach fiel er umso melodramatischer in die letzten elegischen Momente zurück, in denen die Erinnerungen an Beethovens „Eroica“-Trauermarsch-Motiv durchschimmern, bevor diese Musik gänzlich verdämmert und sich in einen letzten Sonnenuntergang verliert.

Diese Endzeitstimmung stand in drastischem Kontrast zur ersten der sechs Gedichtvertonungen, mit denen Mahler seiner Schwäche für fernöstlich filigrane Poesie Ausdruck verlieh. Die eindeutigen Tenor-Partien sind leichtgewichtiger, lebensnaher. Andrew Staples’ ritterlich straffe Stimme, näher an Mozart als an Wagner, hatte bereits im ersten „Trinklied vom Jammer der Erde“ mit der Herausforderung zu kämpfen, unangestrengt gegen die Orchesterstimmen zu bestehen.

Im "Lied von der Erde" litt hin und wieder die Textverständlichkeit

Wo die Balance zwischen heldentenoralem Druck und lyrischer Leichtigkeit nicht angemessen gelang, litt hin und wieder die Textverständlichkeit. Mit diesem Manko bekam auch Kožená zu tun, deren Mezzo noch nie sonderlich raumfüllend war und die dennoch jene drei Lieder sang, die für einen Alt oder einen Bariton entworfen wurden. Was die Umsetzung interessant, aber für sie nicht leichter machte.

In „Der Einsame im Herbst“ glänzten die Holzbläser, die Streicher legten einen sanften Schimmer aus Jadestaub und Lotusblüten-Aroma über das Stimmungsbild. Tolle Orchesterbehandlung, im Leisen und Feinen. Rattle gelang es immer wieder, den Texten Bühnen aus Tönen zu bauen, er inszenierte jedes Lied wie eine Opernszene. „Von der Schönheit“ endete mit einem Fast-Nichts aus Celesta und Harfe. Tiefgründig und existenzialistisch setzte Kožená, manchmal nur an der Grenze des Hörbaren, den Schlussstrich, mit dem episch leidenden „Abschied“. Von den hohen Holzbläsern wie auf Händen getragen, entschwebte sie, der Wiedergeburt entgegen, ins „Ewig… ewig...“.

Aufnahme: Mahler „Das Lied von der Erde“ Sir Simon Rattle, Magdalena Kožená, Stuart Skelton, BR-Symphonieorchester (BR Klassik, CD ca. 18 Euro)