Hamburg. Intendant Christoph Lieben-Seutter spricht über die ersten fünf Jahre des Konzerthauses, über den Kulturauftrag und die Zukunft.
Von der Lachnummer zum Wahrzeichen, vom Skandalbau zum Publikumsmagnet. Ein einziges Gebäude hat einer gesamten Stadt ein anderes Aroma gegeben. In diesen Tagen wird der fünfte Jahrestag des Spielbetrieb-Beginns der Elbphilharmonie mit einem Festkonzert gefeiert. Corona hat der Erfolgsbilanz verheerende Schäden zugefügt. Ein Gespräch mit Generalintendant Christoph Lieben-Seutter über die bisherige Arbeit, über viele tolle und einige verunglückte Konzerte, über den Kulturauftrag und die Zukunft.
Rund 2700 Konzerte, das bekannteste Konzerthaus der Welt vielleicht. Hamburger Wahrzeichen, inzwischen vielleicht sogar für ganz Deutschland. „Erfolgsgeschichte“ wäre als Etikett also leicht untertrieben. Michael Naumann, der ehemalige Kultur-Staatsminister, hat neulich im „Tagesspiegel“ die „Los Angeles Times“ zitiert: „Die Elbphilharmonie ist der Konzertsaal, den Hamburg braucht.“ Sehen Sie das auch so?
Christoph Lieben-Seutter: Absolut.
Aber warum?
Christoph Lieben-Seutter: Weil Hamburg ein Riesenpotenzial für noch mehr Konzerte hatte. Und ein Publikum, das bereit war, die Stadt zur Musikstadt zu machen – aber irgendwie nicht so motiviert.
Vorsichtig ausgedrückt.
Christoph Lieben-Seutter: Es hat ein so verrücktes Projekt wie die Elbphilharmonie gebraucht, um das Thema Musik auf eine ganz andere Ebene zu heben. Und es ist ein Glücksfall, dass sie sich in der Doppelidentität Wahrzeichen und Konzerthaus gegenseitig befruchtet.
Sie haben in einem Interview mit „VAN“ gesagt, dass Sie niemals von einer solchen Auslastung – etwa verdreifachtes Publikum – geträumt hätten. Was war Ihr Traum?
Christoph Lieben-Seutter: In den Machbarkeitsstudien war von etwa einer Eineinhalbfachung des Publikums die Rede gewesen, im „eingeschwungenen Zustand“, wenn ich richtig erinnere, um die 650.000 Zuschauer für beide Häuser, die Laeiszhalle hatte um die 400.000.
Und wie viele, Corona herausgehalten, waren es real?
Christoph Lieben-Seutter: 1,25 Millionen, mehr als das Dreifache, bis zum Lockdown.
Was war der größere Image-Schaden: Die Aufregung um Jonas Kaufmanns verunglückten Auftritt mit Mahlers „Lied von der Erde“ und die Akustik? Oder das Konzert mit Beethoven Neun, im Juli 2017 beim G20-Gipfel?
Christoph Lieben-Seutter: Für uns sicher der Kaufmann. Der G20-Gipfel ist für das Haus kein besonders bleibender Schaden gewesen. G20 war ein Problem für ganz Hamburg.
Im April 2020, kurz nach Beginn der Corona-Pandemie, war Ihre Stimmung „lustigerweise gar nicht so schlecht. Auf eine komische, fast perverse Art macht es fast Spaß, die Situation zu managen.“ Bei der wievielten Welle hat sich das gegeben?
Christoph Lieben-Seutter: Erst jetzt, bei der vierten.
Damals meinten Sie, der worst case sei eine Dauer bis Ende 2021. Das ist rum, die Pandemie nicht. Wie beurteilen Sie die Lage jetzt?
Christoph Lieben-Seutter: Wir haben eine wunderbare halbe Saison hinter uns, seit letztem Sommer war quasi Vollbetrieb. Qualitativ super, fast festivalartiges Programm. Die Elbphilharmonie hat noch mehr zu sich selbst gefunden, weil wir ein interessiertes, dankbares Publikum im Haus hatten. Obwohl Abos ausgesetzt waren, obwohl es keinen organisierten Tourismus gab. Es war ein komplexes Programm und jeden Abend ausverkauft. Ein kleiner Vorteil: Die Leute husten viel weniger als früher, das hat vielleicht etwas mit den Masken, vor allem aber mit der Aufmerksamkeit zu tun. Das Publikum ist glücklich, da zu sein. Das Haus hat ein neues Stammpublikum für Klassik generiert, das gern jederzeit kommt und viel offener, als man es ihm andichtet.
Was haben Sie hier und mit der Elbphilharmonie nicht erreicht?
Christoph Lieben-Seutter: Wir haben viel mehr erreicht als gedacht, aber es gibt auch noch viel zu tun. Der Mix in der Klassik ist gut, im nicht-klassischen Bereich gibt es für mich noch etwas mehr zu entwickeln. Jazz, Pop, Weltmusik würde ich gern etwas besser ausformuliert und konziser planen können. Das Publikum ist immer noch zu 95 Prozent oder mehr weiße Mittelschicht, wir würden gern die Stadtgesellschaft in ihrer Vielfalt besser abbilden.
Wie hat die Elbphilharmonie die Stadt verändert? Ein Großteil ist nach wie vor völlig unbeeinflusst von dem, was hier passiert.
Christoph Lieben-Seutter: Ja, aber ist in jeder Stadt so. Selbst in Wien sind es trotzdem nur einige Zehntausend, die dort hingehen. Ein Teil der Bevölkerung hat andere Sorgen. Aber es ist trotzdem unser Urauftrag und die Aufgabe, ein Haus für alle zu sein. Da waren wir ein bisschen durch den Erfolg ausgebremst. Wenn auf Monate alles ausverkauft war, kann ich gut verstehen, dass viele über anderes nachdenken als die Frage, in welches Konzert sie demnächst wohl gehen. Deswegen freue ich mich, wenn die Nachfrage sich etwas normalisiert. Wir merken, dass sich das Publikum verändert.
Wann ist die Verdreifachung aus dem Vor-Corona-Zustand wieder erreicht? Werden Sie das je wieder schaffen?
Christoph Lieben-Seutter: Wer soll das wissen? Momentan ist unklarer als je zuvor, wie es weitergeht. Der Lockdown war nicht leicht, es gab viel zu tun. Jetzt sind wir wieder im Betrieb, wissen aber nicht, was die nächste Woche bringt.
Hunde und Herrchen prägen sich gegenseitig, Jobs und Arbeitnehmer auch. Wie hat dieses Gebäude Sie verändert? Sind Sie, der gebürtige Wiener, durchhanseatisiert und essen freiwillig Labskaus?
Christoph Lieben-Seutter: Das habe ich schon immer gegessen… Das Gebäude ist ein unheimlicher Freund und eine Inspiration. Ich freue mich jeden Tag, hierher kommen zu können. Die Hafenluft schnuppern zu können ist auch nach 15 Jahren Hamburg speziell und ein tolles Erlebnis. Ich esse aber immer noch sehr gern Wiener Schnitzel und Apfelstrudel.
Ein Langzeitziel war die Verbesserung der Niveaus der örtlichen Orchester, also NDR, Philharmoniker, Symphoniker. Wie sehr ist das nach fünf Jahren gelungen, wie viel Luft ist noch nach oben?
Christoph Lieben-Seutter: Ich finde, es ist eindeutig messbar. Trotzdem ist die Qualität bei den drei immer noch variabel. Es gibt tollere Dirigenten als früher, weil die Elbphilharmonie ein spannender Ort für Auftritte ist. Trotzdem gibt es Abende, die von Routine geprägt sind, das ist in gewisser Weise bei jedem Orchester in seiner Heimat so. Auf Gastspielreisen strengt man sich einfach mehr an. Ein Orchester, das hier zuhause ist, gibt auch viele gute Konzerte, aber manchmal denkt man auch darüber nach, dass der Babysitter krank ist. Das gehört irgendwie dazu.
Ganz leicht rhetorisch gefragt: Berliner Philharmonie und Berliner Philharmoniker – Elbphilharmonie und NDR Elbphilharmonie Orchester, das ist jetzt nicht direkt Augenhöhe?
Christoph Lieben-Seutter: Aber das ist auch eine unfaire Frage. Bei den Berlinern kann man sich streiten, ob es das weltbeste Orchester ist oder unter den ersten drei, und das seit Jahrzehnten. Das werden wir nicht in ein paar Jahren aufholen.
Gibt es Konzerte, die Sie – abgesehen von Jonas Kaufmann - lieber aus Ihrem Langzeitgedächtnis streichen würden?
Christoph Lieben-Seutter: Ganz wenige. Ich habe ein selektives Gedächtnis, und die, an die ich jetzt denke, würde ich aus Fairness nicht nennen, weil es auf dem Papier gut ausgesehen hat.
Das NDR-Orchester hat hier die Residenz vertraglich sicher, für zehn Jahre ab der Eröffnung. Ab wann müssen Sie sich in die Augen sehen und darüber reden, ob und wie es verlängert wird?
Christoph Lieben-Seutter: Man kann schon mal verraten, dass das NDR-Orchester sicher weiterhin Residenzorchester bleiben wird. Tatsächlich beginnen wir erste Gespräche, aber da geht es um Vertragsdetails. Es gibt kein Orchester, das dazwischengrätschen könnte.
Ein weiterer O-Ton von Ihnen: „Bei keinem Konzerthaus der Welt kommt es nur auf die Akustik an.“ Das wirkt, als ob es bei einem Flugzeug nicht darauf ankäme, ob und wie es landen kann.
Christoph Lieben-Seutter: Ganz generell ist es doch so, dass die Akustik von Konzerthäusern von Insidern hochstilisiert und als entscheidender Faktor genannt wird. Das Wiener Konzerthaus hatte jahrzehntelang den Ruf, eine schlechte Akustik zu haben, so schlecht, dass sogar die Konzerthausgesellschaft ihre Konzerte lieber im Musikverein veranstaltet hatte. Dann kam die Generalsanierung, mit nur minimalen Justierungen in der Akustik – und plötzlich hieß es: fantastisch!
Eine der Lieblingsvokabeln des Elbphilharmonie-Akustikers Yasuhisa Toyota: die „Psychoakustik“, der gefühlte Klang. Man hört sich ein und gewöhnt sich, und auf einmal klingt es dort besser als vorher. Der Boden müsse sich setzen, es müsse Staub auf die Weiße Haut.. Glauben Sie daran?
Christoph Lieben-Seutter: Ich kann’s nicht wirklich sagen. Ein Problem sind eher die Künstler, die sagen: zu trocken, zu knallig. Das hat sich eindeutig verbessert. Vielleicht ist es eine Mischung aus allem. Es entsteht aber auch eine Selbstsicherheit auf der Bühne, wenn man weiß, dass man dort schon tolle Konzerte gespielt hat. Der Saal reagiert sicher sehr empfindlich auf das Bühnengeschehen – zwei Meter weiter links oder die Hörner nach hinten erzeugt sofort einen anderen Gesamtklang als in manch anderem Saal. Hausorchester und regelmäßige Gäste haben herausgefunden, wie sie am besten spielen und sich am wohlsten fühlen.
Es gab also auch Künstler, die skeptisch waren. Wie stimmen Sie die um?
Christoph Lieben-Seutter: Ich erkläre immer gern die prinzipielle Gestalt des Saals: Es ist das Weinberg-Modell der Berliner Philharmonie, aber etwas hochgequetscht. Die Akustik ist sehr speziell: sehr klar, sehr räumlich, fast studio-artig. Mein Tipp für Unsichere, am ehesten Sänger oder Geiger: Pass auf, du sitzt eigentlich auf dem Boden einer Schüssel, das Publikum sitzt über dir. Es hat keine erhöhten Bühnen und 20 Reihen, auf die man herunterspielen muss. Allein das sorgt für einen enormen Unterschied. Sobald sie verstehen, wo die Leute sitzen, ist das Konzert kein Problem. Neulich war ein weltbekannter Geiger hier, der am Anfang sehr skeptisch war und sich gar nicht wohlgefühlt hat. Jetzt aber ist er ganz happy mit dem Saal.
Hat Jonas Kaufmann nach dem verunglückten Mahler bei Ihnen noch einen Gutschein für ein Konzert in der Elbphilharmonie? Eine zweite Chance, falls er sie denn möchte? Oder sind Sie und er damit durch?
Christoph Lieben-Seutter: Er hat nie gesagt, dass er dort nie wieder auftreten will. Nur, dass er die nächsten Konzerte in der Laeiszhalle gibt. Da kann ich nur sagen: wunderbar! Ich freue mich über jeden Star, der dort auftreten will. Es ist sein Gefühl, dass er sich momentan nicht in die Elbphilharmonie traut. Damit kann ich auch leben.
Kaufmann war ein Problemfall, ein anderer der Dirigent Riccardo Muti, der sagt, er wolle hier nicht mehr seine Zeit vergeuden. Haben Sie auch mit ihm noch mal geredet, kümmert Sie das noch?
Christoph Lieben-Seutter: Was mich kümmert: Man hat fünf Jahre unglaublichstes Programm, wie es in dieser Breite und Vielfalt noch kein Konzerthaus auf der Welt angeboten hat – warum muss ich dann in jedem Interview über die zwei, drei Fälle reden, bei denen etwas schiefgeht und nicht über tausende andere, fantastische Konzerte. Das ist, was auf Dauer nervt.
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Weil sie nicht ein Konzertsaal auf der Wiese irgendwo neben Bielefeld sind, sondern die Elbphilharmonie. Der Fluch der guten Tat…
Christoph Lieben-Seutter: Herr Muti hat wirklich gute Konzerte gegeben. Alle waren begeistert, es wurden Fortsetzungen geplant, mit Chicago und den Wienern. Dann gab es Eitelkeiten ohne Ende. Ich bin von ihm so behandelt worden, dass ich nur sagen kann: Gut, dann halt nicht. Da muss ich meine Zeit jetzt nicht mehr investieren.
Alle haben gedacht, hier würde in den ersten Jahren ein Riesen-Run passieren. Dann würde es eine Normalisierung geben und danach interessant, um zu erleben, wie die Saat der ersten Jahre aufgeht. Dann kam Corona. Jetzt haben Sie im Januar im Prinzip eine zweite Eröffnung und die Phase, in der man nachjustieren müsste. Oder nehmen Sie jetzt vor allem sicherere Nummern, um das Publikum wieder ins Haus zu bekommen?
Christoph Lieben-Seutter: Es ist kein Neustart, der war im letzten Sommer. Davor waren wir fast ein Jahr gesperrt. Das Programm jetzt ist keinesfalls leichtgängiger oder leichter verkäuflich. Der Großteil hat bis jetzt geklappt, gottseidank. Auf eine Publikumssituation zu reagieren, die bis jetzt immer ausverkauft war – da muss man nicht prinzipiell gleich etwas verbessern. Aber natürlich entwickeln sich neue Projekte und Schwerpunkte. Wir sind an einem Moment, wo der Verkauf entweder sehr lang- oder sehr kurzfristig ist. Was wir in den letzten zwei Jahren nicht durchführen konnten, wird in den nächsten drei Jahren auftauchen.
Was ist mit den kleineren Stellschrauben, den enorm populären NDR-„Konzerte für Hamburg“, den kürzeren, auch früheren Konzerten ohne Pause? Beides wieder raus aus dem Sortiment.
Christoph Lieben-Seutter: Die „Konzerte für Hamburg“ waren eine spezielle Idee für den Beginn, hat super funktioniert, das haben wir drei Jahre gemacht, dann hat sich das Modell überlebt. Recht haben Sie bei den Kurz-Konzerten, das hatte einen Charme, das habe ich auch sehr genossen. Aber das ist nicht so leicht einzubauen. Unsere Terminplanung ist hyperkomplex und das NDR-Orchester kann nicht einfach so auf zwei Kurzkonzerte umschalten, allein schon, weil sie Abonnenten nicht auf 18 oder 21 Uhr einfach aufteilen können. Also: schönes Format, aber aus dem Alltag der Orchesterplanung regelmäßig nicht darzustellen.
Der Konzertdesigner Folkert Uhde findet, dass der ganze Klassik-Betrieb auf Tempel und das Bewundern der Kunst ausgelegt sei. Kompletter Blödsinn, Ihrer Meinung nach, oder ist da was dran?
Christoph Lieben-Seutter: Ja und nein. Dass etwas an einem besonderen Ort stattfindet, ist auch ein Teil des Ereignisses. Das heißt aber nicht, dass man nicht trotzdem auf Augenhöhe mit den Künstlern agiert und locker ist. Ich finde sogar, dass in der Elbphilharmonie Künstler und Publikum mehr auf Augenhöhe sind als in vielen anderen Sälen.
Müssten Sie jetzt nicht, trotz und wegen Corona, einen gewissen Zeitraum lang nur Talente aus der zweiten Reihe in den Großen Saal lassen? Die sind jung und brauchen das Geld und die Aufmerksamkeit, jetzt erst recht. Die Anne-Sophie Mutters dieser Welt benötigen den x-ten Auftritt nicht so dringend.
Christoph Lieben-Seutter: Nachwuchs ist wichtig und gut, und es ist eines unserer besonderen Interessen, ihn zu fördern. Das heißt aber nicht, dass man die gleich mal in den Großen Saal setzt, nur damit sie Geld verdienen. Das ist ein genuines Wachsen, als Künstler muss man seinen Raum erobern. Es gibt Talente, die das schon mit 15 können, aber auch viele andere, die das erst lernen müssen. Ich baue Stars lieber auf, schaue sie mir in einem kleineren Saal an, und wenn das funktioniert, dann in einem größeren. Wir sind gerade dabei, neue Nachwuchs-Serien für das nächste Jahr ins Leben zu rufen, um noch mehr anbieten zu können.
Thema Finanzen: Sie waren und sind hier too big und too important to fail. Sie stehen hier ja auf zwei Säulen, wie sehen die Zahlen aus, sowohl für die Spielbetrieb als auch für die Betreibergesellschaft? Gibt es ein Defizit, was ist mit dem jährlichen Zuschuss der Stadt, rund sechs Millionen Euro? Reicht alles so. Ist der Fünf-Millionen-Sparstrumpf aus der Anfangszeit inzwischen von Corona geleert worden?
Christoph Lieben-Seutter: Das generelle Bild: Für den Betrieb des Hauses gab es keine Subventionen, das wurde durch die täglichen Saalmieten finanziert. Kein Sorgenkind – solange man spielt und die vielen Einnahmen hat. Das war mit Corona und dem Lockdown ein Riesenproblem. Hamburg hat klar signalisiert, dass sie ihre Gesellschaften unterstützt. Die Defizite sind jetzt wieder verringert, weil wir den Spielbetrieb wieder aufgenommen haben. Es ist jetzt zum ersten Mal so, dass die Elbphilharmonie nicht mehr jeden einzelnen Abend spielt, diverse Tourneen haben nicht stattgefunden. HHMusik, die städtische Veranstaltungs-GmbH, bekommt den Sechs-Millionen-Euro-Zuschuss. Natürlich steigen die Kosten. Nach dem Ende der Pandemie kann man froh sein, wenn die Subventionen gleichbleiben. Die wichtigste Einnahmequelle ist der Verkauf der Tickets, die zweitwichtigste die Unterstützung durch Sponsoren und Förderer. Da ist alles beim Alten geblieben, wir haben sogar noch Sponsoren dazugewonnen. Also geht’s HHMusik recht gut.
Der Gedanke, an den Kartenpreisen zu schrauben, steht nicht an?
Christoph Lieben-Seutter: Doch, der steht so langsam an, die letzte Erhöhung war 2018. Also ist nun zu überdenken, wie man einige Prozente schrauben kann oder muss.
Herbst 2022 also.
Christoph Lieben-Seutter: Noch nicht entschieden, aber wahrscheinlich.
Und der Sparstrumpf?
Christoph Lieben-Seutter: Die fünf Millionen Euro gibt’s nach wie vor. Es werden schwierigere Zeiten kommen. Aber nicht morgen.
Haben Sie jemals ausrechnen lassen, wie viel Geld die Elbphilharmonie der Stadt inzwischen eingebracht hat, durch Tourismus, Image-Verbesserung, Umwegrentabilität und so weiter?
Christoph Lieben-Seutter: Das ist so nie passiert. Ich persönlich finde es ganz uninteressant. Auch die Diskussion, dass sich das Haus nun endlich rechnet, ist nicht nötig. Wir haben die Elbphilharmonie nicht gebaut, damit sie sich rechnet. Sondern damit wir ein tolleres Angebot in der Stadt haben, für die Stadt und für die Gäste aus aller Welt. Ich finde nicht, dass sie nur dann besser dasteht, wenn sie sich mal gerechnet hat. Es geht ja nicht um ein Geschäft.
Haben Sie Ihren Frieden mit den Aufreger-Klassikern gemacht: Die angeblich fehlenden Damenklos, die Treppen-Stolperfallen… hat sich das inzwischen gegeben?
Christoph Lieben-Seutter: Einerseits haben sich die Fälle total reduziert. Wir haben im Großen Saal nachgerüstet, wo es ging. Nach wie vor gibt es hin und wieder Unglücke in den Foyers. Vor Corona kamen im Jahr 900.000 Menschen zu Konzerten, dass dabei einige stolpern und sich weh tun, liegt in der Natur der Sache. Bei den Damen-Toiletten hatten wir nicht ganz so gut überlegt, wie sie im Haus verteilt sind, das ist nicht ganz optimal. Aber das Publikum hat sich daran gewöhnt.
Schon ohne Corona würde sich die Stadt Hamburg wohl nie wieder ein Risiko wie diesen Bau leisten wollen. Welche Befürchtungen für die Kultur haben Sie jetzt, mit Corona im Nacken und den fürchterlichen Auswirkungen?
Christoph Lieben-Seutter: Ich glaube nicht, dass alles kurz und klein gespart wird. Wo ich mir aber sehr wohl Sorgen mache: beim Humus. Kunst und Kultur entsteht ja nicht nur in Prestige-Bauwerken, im Gegenteil, sie entsteht in kleinen Clubs, an vielfältigen Orten. Das ist eher das Thema.
Kann man sich, auf hohem Niveau, als Kulturstadt auf und in der Elbphilharmonie ausruhen?
Christoph Lieben-Seutter: Was heißt ausruhen? Niemand kann das, die Elbphilharmonie schon gleich gar nicht. Wir drehen eigentlich jeden Stein um, laufend. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass die Kulturpolitik sich hier nur der Förderung des Bewährten widmet.
Sie sind seit 2007 hier im Amt, haben 2018 bis 2024 verlängert. Wann müssten Sie über die Verlängerung entscheiden – und wollen Sie noch eine Runde drehen? Sie haben einmal gesagt, sie würden noch zwei, drei Jahre machen, wenn Hamburg sie noch wolle. „Aber es soll noch etwas anderes kommen, aus einem völlig anderen Bereich, eine völlig andere Aufgabe.“ Ist das Schnee von gestern?
Christoph Lieben-Seutter: Die Lage hat sich leicht verändert, weil die Elbphilharmonie in den letzten Jahren so viel anstrengender geworden ist – aber auch so viel mehr Potenzial bietet. Zur Eröffnung hätte ich gedacht: Danach kommt noch eine große Adresse, ein anderes großes Haus, ein großes Festival. Davon bin ich total abgekommen, die Elbphilharmonie ist das letzte große Projekt, dem ich mich gerne widme. Darüber, dass ich noch ein paar Jährchen dranhänge, spreche ich auch gerade mit meinem Kultursenator. Und danach möchte ich auf gar keinen Fall Däumchen drehen, das aber in einem Bereich, der weniger zeitfressend und abendraubend ist.
Bis wann müssten Sie sich entscheiden?
Christoph Lieben-Seutter: Wenn ich mich gar nicht entscheide, verlängert sich mein Vertrag im nächsten Sommer um drei Jahre.
Haben Sie nach brutto fünf Jahren und über 2.700 Konzerten noch Spielplan-Programmwünsche?
Christoph Lieben-Seutter: Jede Menge. Es gibt vieles, was hier gar nicht so leicht zu machen ist. Ein Thema, das mich umtreibt: andere Räume zu bespielen. Die Zweite Wiener Schule ist total unterrepräsentiert, da wird es sicher mehr geben. Meine Liste der Wunschwerke, vor zehn Jahren zusammengestellt, ist zu 90 Prozent abgearbeitet.
Wie, außer besenrein, möchten Sie das Ganze hier Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger übergeben?
Christoph Lieben-Seutter: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich hoffe, dass jemand kommt, der diesem Team vertraut und es weiterentwickelt. Das hier ist ja nicht einfach ein Job. Ich habe die Geschichte der Elbphilharmonie seit 15 Jahren mitverfolgt. Wir haben zu dritt begonnen und sind mittlerweile 210 Leute, die lässt man nur ungern im Stich.
Wir haben jetzt fünf Brutto-Jahre Musikstadt mit Elbphilharmonie rum. Wie sieht die Musikstadt Hamburg zum zehnten Geburtstag aus?
Christoph Lieben-Seutter: Das werden wir sehen. Ich weiß momentan nicht mal, wie die nächste Woche aussieht. Kann gut sein, dass es in fünf Jahren ganz andere Strukturen gibt, möglicherweise neue Ensembles und neue Konzertorte. Alles denkbar.
Wie würden Sie den Satz vervollständigen: „Für Hamburg ist die Elbphilharmonie…“?
Christoph Lieben-Seutter: „… ein Glücksfall.“