Hamburg. Joachim Triers herzerwärmender neuer Film ist voller Leichtigkeit und sanfter Ironie. Ein Porträt der viel beschworenen Generation X.
Und plötzlich bleibt die Zeit stehen. Julie knipst in der Küche das Licht an, ihr Freund Aksel gießt sich gerade Kaffee ein. Da gefriert das Bild, erstarrt der Freund und der Kaffeeguss. Nur Julie kann sich bewegen. Und sie läuft. Läuft aus der Wohnung. Läuft durch die Straßen Oslos, wo auch die Autos und Fußgänger mitten in ihrer Bewegung eingefroren sind.
Bis zu dem Coffeeshop, in dem Eivind arbeitet. Den hat sie kürzlich kennengelernt. Nun ist ihr buchstäblich ein Licht aufgegangen: Sie muss mit ihm zusammen sein. Er ist denn auch der Einzige, der sich ebenfalls bewegen kann und der mit ihr durch die Straßen läuft, zwischen all den zu Salzsäulen erstarrten Menschen hindurch.
Cannes-Gewinnerfilm thematisiert Stagnation
Es ist die schönste Szene des Films „Der schlimmste Mensch der Welt“, der jetzt in die Kinos kommt. Ist eine schöne Metapher und Kinomagie pur, wie man bildlich erzählen kann, wenn das Leben festgefahren, wenn es buchstäblich zum Stillstand gekommen ist. Und dass man sich daraus befreien muss. Linda wird am Ende in ihre Wohnung zurückkehren und das Licht wieder ausschalten. Dann bewegt sich auch die Welt um sie herum wieder, und der Kaffee fließt wieder in die Tasse. Die Szene war erst mal nur ein Gedankengang. Aber danach ist klar: Die junge Frau wird ihren Freund verlassen.
Klar ist aber auch, dass diese Entscheidung nicht unbedingt eine fürs Leben ist. Der Titel des Films führt absichtlich in die Irre. Julie (Renate Reinsve) ist keineswegs der schlimmste Mensch der Welt. Aber sie ist eine Endzwanzigerin, die nicht weiß, was sie will. Die erst Medizin studiert, einfach, weil sie die entsprechend guten Schulnoten dafür hat, dann aber auf Psychologie umsattelt, auch dieses Studium schmeißt und mit der Fotografie beginnt.
Cannes-Gewinnerfilm: Portät der Generation Millenials
Sie lernt den Comiczeichner Aksel (Anders Danielsen Lie) kennen. Nistet sich bei ihm ein. Leidet aber bald darunter, dass der immer erfolgreicher wird, während sie nur in einer Buchhandlung jobbt. Und von der Familienplanung, über die er sich mit seinen kinderreichen Freunden austauscht, will sie auch nichts hören. Dann doch lieber ein Neuanfang mit Eivind (Herbert Nordrum), der wie sie keine Kinder haben will.
„Der schlimmste Mensch der Welt“ ist ein Porträt der viel beschworenen Generation X: jener Millennials also, denen die Welt heute alle Möglichkeiten bietet, die aber vor dieser Qual der Wahl zurückschrecken und einfach nicht wissen, was sie tun sollen. Es gibt schon leidlich viele Filme über das Phänomen dieser entscheidungsschwachen Altersgruppe. Und leider leidlich viele leidige darunter. Dieser norwegische Beitrag ist aber einer der wenigen wirklich geglückten Fälle. Klar, auch hier ist die Hauptfigur eine Unstete, die stets auf der Suche ist nach ihrer Identität, ihrer Bestimmung und ihrem Platz im Leben. Doch Nachwuchsentdeckung Renate Reinsve spielt diese Julie mit einem umwerfenden, entwaffnenden Charme, dem man einfach erliegen muss.
Oscar nominierter Film
Regisseur Joachim Trier hat seinen Film in zwölf Kapitel, einen Prolog und einen Epilog unterteilt. Und jedes dieser Kapitel zeigt Julie an einer anderen Stelle ihres Lebens. Bei Entscheidungen, die sie trifft. Und manchmal bedauern wird. Dieses Leben im Konjunktiv, diese ewige Möglichkeitsform, sie wird auch filmisch immer wieder verfremdend erzählt. Wie der Moment, in dem die Umwelt einfriert. Andere Szenen mutieren auch mal zum Comicstrip oder zum Drogentrip. Und das ständig aus dem Off kommentiert, von Julie selbst, wobei sie aber immer in der dritten Person von sich spricht. Wie in ihrer Kolumne, mit der sie sich à la Carrie Bradshaw in „Sex and the City“ versucht.
Joachim Trier saß gerade noch beim eben zu Ende gegangenen Filmfestival von Cannes in der Jury. Nun startet bei uns sein Film, der im vergangenen Jahr in Cannes Premiere hatte und für den seine Hauptdarstellerin als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Seither hat der Film einen ziemlichen Siegeszug hingelegt, war gleich für zwei Oscars nominiert, für den besten fremdsprachigen Film und fürs Drehbuch. Und nicht wenige Kritiker schwärmen, es sei der schönste Film des Jahres. Auch wenn es dafür vielleicht noch etwas früh ist. Superlative im Titel verführen offenbar zu Superlativen in Kritiken.
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Gleichwohl ist „Der schlimmste Mensch der Welt“ ein sehr sympathischer, herzerwärmender Film, der mit großer Leichtigkeit und Ironie punktet. Trier, Jahrgang 1974, hat schon oft von jungen Menschen in Krisenzeiten erzählt: Sein Debütfilm „Auf Anfang“ (2006) handelte von einem Jungschriftsteller, „Oslo, 31. August!“ (2011) dann von einem Ex-Junkie. „Der schlimmste Mensch der Welt“ ist nun der Abschluss seiner Oslo-Trilogie. Alle drei Filme hat Trier mit seinem Kumpel Eskil Vogt geschrieben, in allen dreien spielt Anders Danielsen Lie eine Hauptrolle. Doch die Filme hängen nicht zusammen, man muss die ersten beiden nicht kennen, um den dritten zu verstehen.
Hier lässt Trier nun erstmals eine weibliche Hauptfigur durchs Leben stolpern. Das wird dann nebenbei auch eine Reflexion über die Zeit und das Wachsen an ihr. Was man so eher aus Serienformaten kennt, die das mit einem breiteren epischen Atem erzählen können. „Der schlimmste Mensch der Welt“ ist eine Odyssee durchs Leben, ein Parcours und Hürdenlauf durch all die Optionen, die es bietet. Das Ziel aber ist kein Happy End mit einer optimalen Lösung. Der Film endet vielmehr offen. Mit der Erkenntnis, dass das Leben eben kein vorgefertigter Plan ist, sondern die Summe all der Entscheidungen, die man getroffen hat. Und all der Lehren, die man auch aus Fehlentscheidungen zieht.
„Der schlimmste Mensch der Welt“128 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Abaton, Koralle, Studio, Zeise