Hamburg. Einzig Lieder von Rachmaninow singt die litauische Sopranistin in der Elbphilharmonie. Das ist ebenso gewagt wie großartig.

Die Bühne ist leer, wie die furchterregende Leinwand vor dem erlösenden ersten Pinselstrich. Ein Flügel, das bisschen Licht von oben, das war‘s. Und doch wirkt diese Enthüllungsplattform bis an den Rand mit strahlendem Ausdruck und Persönlichkeit gefüllt, wenn eine Charakter-Darstellerin wie Asmik Grigorian sich ihr aussetzt und dort der Musik hingibt, vor all den fremden Augen und Ohren.

Einzig Lieder von Rachmaninow singt die litauische Sopranistin im Kleinen Saal der Elbphilharmonie, sonderbares, praktisch nie Gehörtes, praktisch nie Gewagtes aus der noch schwach parfümierten Nachhall-Zeit der russischen Spätromantik. Das ist ebenso gewagt wie großartig, denn auch bei einem vermeintlich „kleinen“ Liederabend ist diese große, die dramatisch durchglühte Opern-Stimme voll da. Silbrig fein in der Höhe, goldglänzend und nobel überall. Edelmetall allenthalben, ganz unbedingt.

Asmik Grigorian mit "gewagtem" Programm in der Elbphilharmonie

Dass sie den Raum bis zum letzten Platz füllen kann, ist klar, doch je leiser und eindringlicher Grigorian die Mini-Tragödien und Tagträume gestaltet, desto eindringlicher ist die Wirkung.

Typisch – und richtig – ist auch, dass dieses Programm, das Sortiment ihrer Debüt-CD, keine +1-Abendveranstaltung ist, bei der ein unterbelichteter Klavierbegleiter unterwürfig den Noten-Rest apportiert. Lukas Geniušas kann, ist und will viel mehr als nur der supporting actor bei diesen Kurzgeschichten sein. Augenhöhe, synchrones Wollen und Fühlen.

Grigorian lässt Blumen erblühen und verwelken

Hin und wieder geht der ausgewachsene Virtuose, für den mit einigen Stückchen und zwei beachtlichen Rachmaninow-Präludien Spielraum gegeben wird, etwas zu straff mit ihm durch. Dann wird es ganz leicht uneben in der deklamatorischen Feinabstimmung zwischen Sopran und Instrument.

Doch Grigorian wäre nicht die, die sie ist, wenn sie das dauerhaft aus dem Konzept bringen dürfte. Sie lässt Blumen erblühen und verwelken, erfreut sich an Flieder, vergießt verzweifelt Tränen und freut sich naiv und sanft über den Frühling, während es im Klavier lautmalerisch plätschert, und grübelt im „Zwielicht“, während das Klavier Bodennebel aus Harmonie-Andeutungen verströmt.

Grigorian liefert opernreife Szene in der Elbphilharmonie

In den halbwegs konventionell gehaltenen Liedern, einige feinfühlige Heine-Vertonungen sind auch dabei, skizziert sie Stimmungsbilder. Je ausufernder und musiktheatraler die werden, desto packender wird die Unmittelbarkeit dieser Stimme. Zu schade, dass es nur eine Bühne gibt und nicht auch noch eine Kulisse für die opernreife Szene, die Rachmaninow so andeutungsstark mit „Dissonanz“ überschrieben hat und die beim besten Willen kein Lied mehr ist.

Grigorian trägt ein schwarz-weißes Kleid. Ganz oder gar nicht. Hier ging es knapp zwei Stunden lang nur um Extreme und ihre Aushaltbarkeit. Am Ende gewährt sie, strahlend, geschafft und überwältigt von Nähe und Distanz gleichermaßen, noch eine Zugabe. Und verschwindet wieder.

Aufnahme: „Rachmaninoff: Dissonance“ Grigorian / Geniušas (alpha, CD ca. 16 Euro).