Hamburg. Autorin Sibylle Berg dreht dem Kapitalismus den Saft ab und legt einen Bestseller vor: „RCE“ als Folge-Dystopie von „GRM Brainfuck“.
Der Kampf geht weiter. Nachdem in Sibylle Bergs Bestseller „GRM Brainfuck“ (der im Thalia Theater als Inszenierung von Sebastian Nübling läuft) eine Gruppe Nerds aus dem urbanen Prekariat gegen die allgegenwärtige Überwachung im Nach-Brexit-England rebellierte – und scheiterte –, stellte sich die Frage, ob es bei diesem Untergang bleiben sollte. Nein, das wollte und konnte die in der Schweiz lebende Autorin so nicht stehen lassen. Und deshalb nehmen ihre Nerds einen zweiten Anlauf als Hacker in der Folge-Dystopie „RCE“, das für „#RemoteCode Execution“ steht. Ein Super-Hack also, der allen unerfreulichen Begleiterscheinungen des Kapitalismus einfach mal den Saft abdrehen soll.
Als Leserin oder Leser muss man sich den Ton des neuen Buches, das bereits oben auf der Bestseller-Liste steht, erst einmal wieder erarbeiten. Berg bedient sich einer weniger von der Handlung getriebenen Essay-Sprache mit süchtig machenden, fein gedrechselten Formulierungen, die atemlos von Pointe zu Pointe jagen. Damit sorgt Berg aber auch für manch gewollte Überforderung. Die kurzen Schlaglichter, die sie auf den fortgeschrittenen, degenerierten Kapitalismus wirft, sind härterer Natur.
Sibylle Berg: "RCE" ist Folge-Dystopie von "GRM Brainfuck"
Ihre Hacker-Gang besteht aus sozial Randständigen, die alle nicht dem Bild geschönter, mit Filtern und Fillern aufpolierter Werbe-Oberflächen entsprechen. „Sei wie alle, dann bist du sicher vor dem Ausschluss aus dem Rudel. Benehme dich ordentlich, normal, unauffällig, zahl deine Steuern, wasch deine Gardinen, sonst wird der Mob dich erschlagen“, heißt es da.
Die Nerds, das sind Ben, Kemal, Maggy, Pavel und Rachel, die diverse Zwangsstörungen, Allergien, schlechte Ernährung aber auch eine kollektive Ablehnung von Faschisten auf sich vereinen. Sie sind keine akademisch gebildeten Intellektuellen ohne Kontakt zu Obdachlosen, Amazon-Mitarbeitenden und alleinerziehenden Müttern. Vielmehr Außenseiter mit Sozialphobien und ohne nennenswertes Sexualleben. Hinzu kommt eine Menge weiteres Personal, bei dem man als Leser schnell den Überblick verliert.
„RCE“: Viele Sibylle-Berg-Sätze sind für die Ewigkeit
Die Welt ist noch ein wenig kaputter. Der Kapitalismus ist in seiner Unerbittlichkeit längst heiß gelaufen und implodiert. Firmen werden verscherbelt, die nach dem „Ruin ihres Vorbesitzers“ riechen, „eines windschnittigen Anfang-zwanzigjährigen mit einem Porsche-Leasingvertrag, der davon geträumt hatte, im großen Stil Steuern zu hinterziehen. Nichts da. Firma vor die Wand gefahren, und los geht es wieder von vorne. Gym, Krawatte um, kalt geduscht und die gebleichten Zähne gezeigt.“ Viele dieser Sibylle-Berg-Sätze sind für die Ewigkeit. Ihre Offenbarungen geben wenig Anlass zu Optimismus: Ein Geflecht aus undurchsichtigen Konzernen und Oligarchen kontrolliert die Gelder, während die gewählten demokratischen Volksvertreter vom Spielfeldrand aus zuschauen.
Auch mit viel Fantasie kann man sich die Globalisierung und die Tatsache, dass in allen Teilen der Welt die gleichen Dinge herumstehen, nicht mehr schönreden. Auch die Überwachungsmechanismen sind natürlich ausgefeilter. Und für die letzten begehrenswerten Dinge, etwa das Reisen, bräuchte man Geld, das keine der ausgebeuteten Arbeitsbienen mehr hat.
Besteller von Sibylle Berg ist ein wenig nervtötend
Die Hackergruppe rekrutiert aber nun Brigaden in Europa und plant nichts weniger als einen D-Day zur Rettung der Welt. Ein „letztes Aufstehen der Menschheit“. Es ist ein äußerst bitterer Humor, mit dem Berg die Exzesse des Kapitalismus entlarvt. Man fühlt mit den Opfern und mit der Verzweiflung derjenigen, die wenig zu verlieren haben und deshalb auf den großen Tag hinarbeiten. Ein wenig nervtötend ist das auf einer Länge von 700 Seiten allerdings auch. Vor allem aber ist „RCE“ ein Plädoyer für Humanismus in einer zunehmend inhumanen Welt.
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Die Schriftstellerin hat für Freitag (20.5., 19 Uhr) die Premiere eines halbstündigen Filmes zum Buch angekündigt, in der als spezielle Gäste auch Faber, Katja Riemann und Olli Schulz auftreten sollen. Zugänglich ist er über die Website der Autorin (sibylleberg.com).
Und die Welt ist auch bei Sybille Berg noch lange nicht am Ende. Eine Fortsetzung von „RCE“ ist bereits angekündigt.