Hamburg. Der Dresdener Bestsellerautor ist zuletzt in Ungnade gefallen. Sein neuer Roman handelt auch von der Flüchtlingskrise.
Der schlechtgelaunteste Satz, den man über den dicken Roman „Der Schlaf in den Uhren“ sagen könnte, wäre dieser: Wie viel Aufwand einer literarisch betreiben muss, um seine Enttäuschung über ein Gesellschaftssystem auszudrücken und gleichzeitig sein Weltbild literarisch zu festigen, um seine Verletzungen zu kurieren in Angriffen auf das, was angeblich falsch läuft. Es versteht ihn längst keiner mehr in den Kreisen, in denen er vorher lange gefeiert wurde. Auch an die richtet sich dieses Buch, das in weiten Teilen die Kritik wiederholt, die sein Autor in den vergangenen fünf Jahren nicht-belletristisch geäußert hat.
Der wohlmeinendste ist dieser: Uwe Tellkamp hat es, nach mehr als zehnjähriger Arbeit, tatsächlich geschafft, seinem Bestseller „Der Turm“, dem großen und überbordenden, dem wagemutigen Wenderoman, doch noch ein Sequel hinterherzuschicken. Unter erheblichen Mühen. Der Suhrkamp-Verlag, es war der einfachstmögliche PR-Vorgang, der das Beste in diesem Buch bündelt, genau das auf den Einband drucken lassen. „Der Schlaf in den Uhren“ also als „Fortschreibung“ des glorreichen Vorgängers.
Uwe Tellkamps neuer Roman ist Fortschreibung von „Der Turm“
Heißt, der neue Roman setzt nach dem Mauerfall an, „Der Turm“ hat die protagonistische Dresdener Bildungsbürger-Familie sieben Jahre bis in diesen historischen November begleitet. Die Arzt-Sippe Hoffmann und Meno Rohde, Bruder. Schwager, Onkel, der als Lektor in einem Verlag arbeitet – wir treffen sie hier wieder an.
Es ist zum einen Meno, der penetrante Büchermensch, der im Hinblick auf die anarchische und unsichere Zeit nach dem Ende der DDR in den Mittelpunkt rückt und mit ihm das kulturelle Feld. In den meisterhaft den Augenblick verdichtenden Szenen erzählt Tellkamp vom Zusammenbruch des Alten und den Ruinen; es ist noch nicht klar, wie die Zukunft werden wird auch für die, die Bücher schreiben oder verlegen. Aber der Westen schickt sich schon an, den gescheiterten anderen deutschen Statt platt zu machen.
„Der Schlaf in den Uhren“: Satire und Medienkritik
Und vor allem stehen die Mächtigen von einst immer noch als Drohkulisse in der heruntergewirtschafteten Landschaft herum. Der Dissident Hans Hoffmann macht diese Erfahrung: Noch zu DDR-Zeiten wurde er verhaftet. Nach dem Mauerfall, das untergegangene Land ist ein Treibhaus mit Tätern und Opfern, geht er mit einer Handvoll Leute zur Stasi, um deren Aktenschreddern zu verhindern.
Seine Kinder, die Zwillinge Fabian und Muriel, waren kurzzeitig in der Prager Botschaft, um dann aber, der Vater der gemeinsam mit ihnen flüchtenden Freundin ist ein hohes Tier in der Nomenklatura, noch mal zurückzukommen. Nicht wenig später können alle das Gefängnis Sozialismus verlassen.
Hauptfiguren aus "Der Turm" werden teils zu Randfiguren
Und was ist mit den anderen Hoffmanns? Hans, Fabian und Muriel sind im „Turm“ lediglich Randfiguren. So geht es Richard, Christian und in geringerem Maße auch Anne in „Der Schlaf in den Uhren“. Richard spielt gar keine Rolle mehr, warum, erfährt man erst (wir verschweigen sein Schicksal hier) im Figurentableau, das hinter den Romantext gestellt ist. Christian ist, nach der Wiedervereinigung allen Begrenzungen enthoben, tatsächlich Arzt geworden, von der Mutter (Reina!) seiner zwei Kinder lebt er getrennt.
Christians eigene Mutter Anne Hoffmann wiederum ist nichts Geringeres als – Kanzlerin. Die Erzählgegenwart des Romans, die Zeit, in der sich der Text die meiste Zeit aufhält, ist nämlich das Jahr 2015. Wir befinden uns viele Jahre nach der Wende und den revolutionären Ereignissen, als die Bürgerrechtlerin Anne gegen den SED-Staat auf die Straße ging. Aus der Krankenschwester ist die Regierungschefin geworden; eines Landes, das in vielen Dingen doch nur wieder der DDR ähnelt. Das ist das große Thema von „Der Schlaf in den Uhren“, eines Buchs, das sich auf hochliterarische – es wird collagenhaft, wie in einem Kaleidoskop erzählt – Weise an einer satirischen Gesellschaftskritik von rechts versucht.
Uwe Tellkamp unterstützte islamkritische Dresdner Buchhändlerin
2015 ist, wenn man so will, das Jahr, in dem das Drama um einen begann, der vielleicht das Zeug zum Nationaldichter hätte, diese Karriere jedoch zuletzt so erfolgreich torpediert hat, dass man immer wieder nur staunen kann. Spätestens mit den in Deutschland ankommenden Flüchtlingen wurden die Zuwanderungs- und Islam-feindlichen Pegida-Demonstrationen zu öffentlich wahrgenommenen Ereignissen und Dresden für die alten Bundesländer zur Hauptstadt der Xenophobie.
Der Schriftsteller Uwe Tellkamp ging 2017 an die Front in der Auseinandersetzung der Weltanschauungen, als er sich im Zuge des Kulturkampfs um die Dresdener Buchhändlerin Susanne Dagen auf deren Seite schlug. Sie hatte sich islamkritisch geäußert und ließ Sympathien für Pegida erkennen, ehe sie die Nähe zum neurechten Verlag Antaios des Publizisten Götz Kubitschek suchte.
Fiktion ist nicht mehr ohne Tellkamps Poltereien zu lesen
Tellkamp unterschrieb die von Dagen initiierte „Charta 2017“, die sich gegen die Ausgrenzung rechter Verlage bei der Frankfurter Buchmesse richtete. Einige Monate später fielen dann die Worte, die seitdem zum Schaden des Schriftstellers in der Welt sind. Die wirklich unsinnigen Worte zur Flüchtlingsproblematik („Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent“) und die über die „Gesinnungskorridore“, also den von Tellkamp identifizierten Bereich der Meinungen, die lediglich geduldet, aber nicht erwünscht seien.
Ins Tell Camp begaben sich nun die üblichen Repräsentanten nicht nur konservativer, sondern auch deutlich rechts gewirkter Kreise. Es ist ein Problem dieses Romans, dass man diese Vorgänge hier referieren muss: Die Kunst steht im Falle des umstrittenen Autors nicht mehr für sich, gerade weil er so offenkundig seine Themen nun literarisch ausbreitet. Es schadet dem Roman außerdem auch ästhetisch, dass weite Teile den Tellkamp-Betrachtungen zum Politik-Medien-Komplex vorbehalten sind. Die Fiktion ist nicht mehr ohne Tellkamps Poltereien zu lesen, dennoch gibt es die Absicherung in der Kunst: Am Ende bleibt in diesem Buch viel unübersichtlich und codiert.
Neuer Roman: Fiktive Stadt Treva trägt Züge von Hamburg
Die Romanfigur Anne Hoffmann ist die Kanzlerin des real nicht existierenden Stadtstaates Treva, der in „Der Schlaf in den Uhren“ mit seiner einst auf der anderen Seite der Grenze liegenden Elb-Schwesterstadt Dresden wiedervereinigt wurde. Treva ist ein wortreich eingeführtes Gebilde, das auf der Behördenebene eher überflüssige fantastische Züge trägt (mit einem Bergwerk voller unterirdischer Ämter) und außerdem Züge der Berliner Republik. Außerdem auch welche der Hansestadt Hamburg, jedenfalls ist Treva reich: „In Treva braucht man keine Zahnbürste. Da sind selbst die Bakterien aus edlerem Stoff, die Zähne ja sowieso. Haben Sie gesehen, was für tolle Zähne die alle hier haben?“
Kunde von jenem Treva, das Tellkamps Vorstellung gemäß Deutschland (das namentlich übrigens auch im Roman vorkommt) wohl bis zur Kenntlichkeit entstellen soll, erhalten die Lesenden von Fabian Hoffmann, der in einer nicht anders als seltsam zu nennenden staatlichen Behörde mit Doppelaufgabe arbeitet: einerseits im Seeminenreferat des Flottenamts, andererseits in der sogenannten „Tausendundeinenachtabteilung“, die unentwegt Informationen über Treva sammelt. Außerdem ist die Behörde mit der Trevischen Nachrichtenagentur verbandelt.
„Der Schlaf in den Uhren“: Schlüsselroman mit Rudolf Augstein
Ja, so sind die Verhältnisse in Treva: Eine unabhängige Presse gibt es nicht, alle arbeiten zusammen an Narrativen, werden gleichzeitig von der Politik gelenkt und lenken diese selbst. Fabians Tiefenbohrungen in seiner persönlichen, dramatischen Geschichte – die Abstrafung der zu DDR-Zeiten aufsässigen Schwester Muriel, die Verhaftung der Eltern – wechseln sich mit seiner Analyse der Treva-spezifischen Gesetzmäßigkeiten in Medien und Politik und deren Zusammenspiel ab. Weil „Der Schlaf in den Uhren“ ein Schlüsselroman ist, darf man auf literarische Schnitzeljagd gehen, und manche Beschreibungen liest man mit Amüsement – „Spiegel“-Chef Augstein (der „Spiegel“ heißt im Roman „Die Wahrheit“) trägt den Namen „Der Große Burstah“. Warum auch immer.
Tellkamp ist bekannt für seine gestückelten Veröffentlichungen. Teile seiner Romane waren bereits vor deren kompletter Drucklegung zu lesen. Für „Der Schlaf in den Uhren“ schöpfte Tellkamp aus einem Textkonvolut von 2000 Seiten. Offensichtlich ist, wie beweglich er den Text bis zuletzt gehalten hat. Wenn der zornige Tellkamp der jüngeren Vergangenheit seinen kaum verhüllten Auftritt hat, wird es auch literarisch schwach und inhaltlich unplausibel.
Da ist etwa der einstige Dissident, der noch gar nicht so recht plastisch geworden, dessen Geschichte noch gar nicht erzählt ist und der dennoch unvermittelt in der Erzählgegenwart angeblich von einem Kapitel im „Zauberberg“ redet, aber doch ganz anderes meint: „Wie aus einer Krise, keiner wisse so recht, wie, ein bisher friedliches Volk in Zank und Streit verfalle, sich spalte in Gut und Böse, in aufgeklärte Demokraten und Pack, wie Zeitungen tendenziös würden und es noch nicht einmal bemerkten, wie Kultur- und Medienschaffende ihre Leser oder Zuschauer zu erziehen sich anmaßten und es eine Kluft, plötzlich?, gebe zwischen der Politkaste und dem Volk, jedenfalls doch beachtlichen Teilen von beiden, wie die Auseinandersetzungen infolge von Wahrheitskrümmung, -unterdrückung, -steuerung, -färbung, auch infolge von lücken- und lügenhafter und blödsinniger Berichterstattung“. Das kommt so unvermittelt, warum sollte das Figurenrede sein?
Til Schweiger ist in Tellkamps neuem Roman Nick Tschiller
Es zielt, was sonst, auf die Zuwanderung nach 2015. Tellkamps Zugriff auf das Thema ist am Ende vor allem satirisch, das mischt eine mediokre Komik in die Bitternis. Sigmar Gabriel, der einst rechtsextreme Randalierer vor einer Flüchtlingsunterkunft in Sachsen als „Pack“ beschimpfte, heißt im Roman Siegemund. Und Til Schweiger Nick Tschiller. Dessen menschenfreundliche Facebook-Anstachelungen stiften, im Roman, Kanzlerin Anne Hoffmann, die wie Angela Merkel auch „Mutti“ genannt wird, letztlich zum „Wir schaffen das“-Moment an.
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Tellkamps Treva ist ein Behördenstaat, in dem (Sprach-)Regeln herrschen. In einer auf 2021 datierten Drucksache karikiert Tellkamp das an Gesinnungsprüfungen gekoppelte Preisvergabeverfahren. Durchs Raster fällt der mit einer 95-Prozent-These auffällig gewordene „Telramund“, von dem es heißt: „Unsere progressiven Kräfte haben damals die richtigen Worte gefunden und den rechtsnationalen Käse des T. entzaubert.“ Man vermutet, dass das mehr Spott als Selbstironie ist. Christian Hoffmann, Tellkamps älteres Alter ego aus dem „Turm“, hilft im heißen Sommer 2015 als Arzt in einer Dresdener Flüchtlingsunterkunft. Sein Humanismus macht ihn zum sympathischen Idealisten.
Uwe Tellkamp kommt ins Hamburger Literaturhaus
Uwe Tellkamp hat einen verrätselten, doppelbödig gedachten, aber letztlich gedanklich eindimensionalen, einen sprachlich im übrigen überzeugenden neuen Roman vorgelegt, über den man trefflich streiten kann. Wünschenswerterweise auch mit ihm selbst.
Am 18. Mai (20.15 Uhr) läuft auf 3sat die Dokumentation „Der Fall Tellkamp. Streit um die Meinungsfreiheit“, die den Dichter („Ich will nicht als Faschist, Vollidiot, rechtes Arschloch hingestellt werden, das weise ich von mir, gerade weil mir Demokratie wichtig ist, unsere Art und Weise zu leben. Ich bin gegen Sprach- und Denkbarrieren, das ist für mich die Voraussetzung des Autorendaseins“) mit rhetorischem Furor zu Wort kommen lässt, ihn aber auch als tief gekränkten Mann porträtiert. Er werde wegen seiner Meinung zum Islam wie ein Verbrecher behandelt, klagt Tellkamp.
Ein Opfer der Cancel-Kultur ist er jedenfalls nicht – in Hamburg stellt Tellkamp seinen Roman am 7. Juni im Literaturhaus vor.