Hamburg. In der Saison 22/23 bringt das Theater „Caesar“, „Macbeth“ und andere Bestseller. Intendantin Karin Beier inszeniert erstmals nicht selbst.
Eine Menge von dem, was viele vor dem Krieg für unumstößliche Gewissheiten hielten, sei im Eiltempo über Bord geworfen worden, hat Karin Beier festgestellt. Pazifismus? Belächelt. Unser Verhältnis zu Gewalt und Nation? Verändert. Waffenlieferungen? Erschienen „nicht nur vernünftig, sondern moralisch geboten“. Der Glaube an ein „postheroisches, postnationales Zeitalter“? Gilt nicht mehr. Was für die Intendantin des Deutschen Schauspielhauses bedeutet: „Wir müssen unsere Narrative darauf überprüfen, ob sie im Ernstfall standhalten.“
Schauspielhaus: Pucher startet mit der Premiere von "Cäsar"
Eine alte Theater-Gewissheit immerhin scheint nach wie vor Gültigkeit zu besitzen: Schlag nach bei Shakespeare. Nach dem furiosen „Richard“ der noch laufenden Spielzeit wird auch die kommende Saison am Schauspielhaus mit Shakespeare eröffnet, diesmal mit gleich zwei seiner prototypischen Tyrannen. Den Anfang macht der Regisseur Stefan Pucher, den man in Hamburg zwar zuletzt am Thalia Theater verortete („Eurotrash“), der allerdings in Tom Strombergs legendärer Schauspielhaus-Abschiedsspielzeit vor fast 20 Jahren einen grellen Wahnsinns-„Othello“ geprägt hatte. Eine Inszenierung, die auch bei Karin Beier noch immer nachwirkt.
Pucher wird nun mit „Caesar“ (Premiere am 3. September im Malersaal) der höchstaktuellen Frage nachgehen, ob Tyrannenmord eine Lösung zur Wiederherstellung der politischen Ordnung sein kann. Karin Henkel, die auf der großen Bühne zuletzt „Richard – the Kid & the King“ mit Lina Beckmann verantwortete, legt Ende September mit „Macbeth“ nach, einem Mann, der zwischen Selbstüberschätzung und Paranoia von einem blutigen Krieg zum nächsten taumelt. Viel gegenwärtiger können Klassiker der Weltliteratur kaum sein.
Noch vor dem offiziellen Beginn: Performance von Paul McCarthy
Weil aber bekanntermaßen alles mit Adam und Eva beginnt, soll das auch am Schauspielhaus nicht anders sein – und so bekommt die Spielzeit noch vor ihrem offiziellen Beginn einen wuchtigen Performance-Prolog (in dem auch Ensemble-Neuzugang Lilith Stangenberg sich vorstellt): Der gewalterfahrene US-Künstler Paul McCarthy bringt eine Installation unter dem Titel „A&E/Adolf & Eva/Adam & Eve“ nach Hamburg, bei der sich das Publikum auf einiges gefasst machen sollte. Karin Beier, die McCarthy zur Vorbereitung in Los Angeles besucht hat, kehrte jedenfalls beeindruckt von dieser Dienstreise zurück: „Das hat meine Grenzen berührt.“
Gewalt als roter Faden der Gegenwart – wen das verblüfft, der dürfte die vergangenen Jahre in eher privilegierter Position verbracht haben. Während sich die Regisseurin Lucia Bihler, die zum ersten Mal am Schauspielhaus inszeniert, im Oktober mit dem Aspekt des Femizids in „Woyzeck“ beschäftigt, bringt die ehemalige Regieassistentin Annalisa Engheben den erst kürzlich verfilmten Abtreibungs-Bestseller „Das Ereignis“ von Annie Ernaux ins Rangfoyer. Und der Titel von Gillian Greers „Fleisch“ – ebenfalls von einer Regieassistentin, Julia Redder, im Rangfoyer als deutschsprachige Erstaufführung inszeniert – spielt nicht nur auf ein kulinarisch entsprechend eingeschränktes Restaurant an, sondern vor allem auf die Auswirkungen einer Vergewaltigung auf Täter, Opfer und ihr Umfeld.
Philipp Stölzl inszeniert zum ersten Mal am Schauspielhaus
Verdrängtes, Vergessenes und Unsichtbares interessiert auch Schauspielhaus-Novizin Marie Schleef. Ihre Inszenierung „The Mushroom Queen“ (im Februar im Malersaal) sowie die aktuelle Arbeit von Stammregisseurin Katie Mitchell (im November auf der großen Bühne) bleiben jedoch bewusst fleischlos: Mitchell erzählt Tschechows „Der Kirschgarten“ – kein Scherz – aus der Perspektive der Bäume. Und in der „Mushroom Queen“ tauscht eine Frau das Leben mit einer Pilzstruktur.
Einzelschicksal? Davon sollte man in diesem konkreten Fall wohl ausgehen. Die Bedrohung unseres Ökosystems jedoch ist eine global-gesellschaftliche, sie findet sich auch in anderen Produktionen der kommenden Spielzeit. Und hätte die dystopische Handlung von „Der lange Schlaf“ des australischen Autors Finegan Kruckemeyer in Vor-Corona-Zeiten nicht auch einen eher abseitigen Eindruck gemacht? Um die Klimakatastrophe noch abzuwenden, entscheiden sich Wissenschaftler und Politikerinnen in diesem Stück für einen radikalen Schritt: Sie versetzen die gesamte Menschheit für ein Jahr in einen Schlaf. Ein massiver apokalyptischer Dornröschen-Stillstand zur Rettung der Welt, der ganz große Lockdown. Auch Philipp Stölzl inszeniert zum ersten Mal am Schauspielhaus, Premiere ist im Januar.
Cornelia Funkes „Herr der Diebe“ auf der großen Bühne
Den Schweizer Regisseur, Musiker und Bühnenbildner Thom Luz hat das Hamburger Publikum vor einigen Jahren als Nebel-Künstler auf dem Internationalen Sommerfestival kennengelernt. Am Schauspielhaus wird er im Februar „Die acht Oktavhefte“ von Franz Kafka inszenieren.
Zuvor bringt Markus Bothe als Familienstück ab neun Jahren Cornelia Funkes „Herr der Diebe“ auf die große Bühne, Leonie Böhm inszeniert „Johanna“ nach Schillers „Die Jungfrau von Orleans“ im Malersaal, und Heike M. Goetze kümmert sich um ein neues Werk der Dramatikerin Nora Abdel-Maksoud: In der Komödie „Jeeps“ (18. November im Malersaal) geht es pointenreich um „das Ende des Erbens“. Eine Vokabel zum Vormerken: „Eierstocklotterie“.
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Schauspielhaus: Der Tisch in der neuen Saison ist reich gedeckt
Ein vielversprechendes Mammutprojekt hebt sich das Haus bis zum Spielzeitende auf: „Der Morgenstern“, der erst kürzlich in der deutschen Übersetzung veröffentlichte 900-Seiten-Roman des norwegischen Bestsellerautors Karl Ove Knausgård („Mein Kampf“), beschließt die Saison im Mai. Regie führt der Ungar Viktor Bodo, der als regelmäßiger Gast am Schauspielhaus unter anderem Kafkas „Das Schloss“ und „Die Präsidentinnen“ verantwortete.
Der Tisch ist also reichhaltig gedeckt, nun müssen nur noch die Zuschauerinnen und Zuschauer kommen und Theaterhunger mitbringen. Selbstverständlich ist das leider nicht: Das Schauspielhaus hat wie alle Bühnen mit Besucherschwund zu kämpfen. Die Intendantin beobachtet die Entwicklung „mit Sorge“. Und kündigt zugleich einen Bruch mit einer weiteren bisherigen Gewissheit ihres Publikums an: Karin Beier wird in der kommenden Saison erstmals keine eigene Inszenierung übernehmen.