Hamburg. „Das perfekte Geheimnis“ im St. Pauli Theater lässt ein Abendessen unter der Vorgabe absoluter Ehrlichkeit eskalieren.
„Was ist nur aus uns geworden?“ Das ist einer der letzten Sätze in Paolo Genoveses Dinnerkomödie „Das perfekte Geheimnis“ unter der Regie Ulrich Wallers im St. Pauli Theater – und er hallt nach. „Was ist nur aus uns geworden?“, das fragen sich die sieben Menschen mittleren Alters, die sich bei Vincent und Marie zum Abendessen getroffen haben und irgendwann, zwischen Austern und Gänseleberpastete in Milch, auf die fatale Idee gekommen sind, spielerisch die Ehrlichkeit untereinander auszutesten.
Aber Ehrlichkeit ist gefährlich, sie sorgt dafür, dass man plötzlich klar auf das eigene Leben schaut, und was da zu sehen ist, gefällt einem nicht: „Was ist nur aus uns geworden?“ Ein Haufen verlogener Egoisten.
St. Pauli Theater: Oliver Mommsen als Schönheitschirurg
Da sind die gutsituierten Gastgeber, er (Oliver Mommsen) Schönheitschirurg, sie (Anne Weber) Psychotherapeutin. Dass sie vorhat, sich die Brüste operieren zu lassen (nicht bei ihm), gefällt ihm so wenig wie ihr die Tatsache, dass er seit einem halben Jahr in Therapie ist (nicht bei ihr). Und dass Tochter Margot (Anna Caterina Fadda) augenscheinlich ihre Mutter hasst, während sie zum Vater ein vertrauensvolles Verhältnis pflegt, tut dem Beziehungsfrieden auch nicht gut.
Marcel (Stephan Grossmann) und Charlotte (Johanna Christine Gehlen) derweil haben sich auseinandergelebt, sie flüchtet sich in Bösartigkeit, er in Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Und Thomas (Holger Dexne) und Lea (Isabell Giebeler) wollen ihr exzessives Sexualleben mit einem Kind krönen, das heißt: Eigentlich will sie ein Kind, er weiß nicht so recht.
„Das perfekte Geheimnis“ im St. Pauli Theater – mit Seitensprüngen
Und dann ist da noch Ben (Sebastian Bezzel). Ben ist schwul, doch das sollen die anderen nicht wissen. Aber eigentlich soll ohnehin niemand von den Intimitäten, den ganzen Seitensprüngen und Herzlosigkeiten der Tischgesellschaft wissen. Niemand soll erfahren, welches Paar seit wie lange nicht mehr miteinander schläft, niemand soll erfahren, wer was am Gegenüber verachtet. Nur dumm, wenn man einen Abend absolut ehrlich zueinander sein will.
2016 hatte Autor Genovese den Stoff unter dem Titel „Perfetti Sconosciuti“ verfilmt, drei Jahre später kam ein deutsches Remake von Bora Daktegin ins Kino. Und tatsächlich ist die Grundsituation perfekt auf unsere Gegenwart zugeschnitten: eine Zeit, in der alle Geheimnisse im Speicher der Handys versteckt sind, in Form von expliziten Fotos und heißblütigen Textnachrichten.
St. Pauli Theater: Schauspieler lassen das Ensemblestück glühen
Und wenn eine Freundesclique die Handys entsperrt auf den Tisch legt, dann findet über kurz oder lang jeder alles über sein Gegenüber raus. Auch das, was besser ungesagt bliebe. „Sind Handys heute nicht das Archiv, der Speicher einer ganz geheimen Seite von uns?“ fragt Regisseur Waller im Programmzettel, und Raimund Bauers Bühne zitiert mit abgerundeten Eckfenstern zurückhaltend die Handschmeichler-Ästhetik aktueller Smartphones.
Die Eskalationsmechanik dieser Situation liegt auf der Hand – jeder kann sich überlegen, ob er seiner Partnerin oder seinen Freunden wirklich Zugriff auf den eigenen Handyspeicher geben will. Und Ulrich Waller muss gar nicht viel inszenieren, um diese Geschichte zünden zu lassen. Der Wortwitz der (von Sabine Heymann klug ins Deutsche übertragenen) Vorlage ist raffiniert, die Bösartigkeit schonungslos, und nicht zuletzt die Schauspieler lassen das Ensemblestück glühen.
Theaterkritik: Vor allem Sebastian Bezzel als homsexueller Lehrer überrascht
Grossmanns Marcel: ein Ausbund teigiger Jammerlappigkeit. Giebelers Lea: eine herrliche Prollbraut. Mommsens Vincent: ein vordergründig netter Typ, dessen Souveränität kurz davor ist, in Arroganz zu kippen.
Vor allem aber Sebastian Bezzel, den man fast als darstellerisch wenig geforderten Kleinstadtpolizisten in TV-Schmunzelkrimis versackt wähnte, überrascht. Sein Ben ist eine tragische Figur: ein arbeitsloser Sportlehrer, der angesichts seiner Situation droht, aus dem Leim zu gehen, und der weiß, weswegen er seinen Freunden nichts von seiner Homosexualität erzählt. Weil er ahnt, dass diese Freunde gar keine echten Freunde sind.
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„Das perfekte Geheimnis“: Höllischer Spaß im St. Pauli Theater
Und hier hakt das Stück vielleicht ein wenig. Was sind das eigentlich für Leute, die sich da zum Abendessen treffen? Gibt es das überhaupt noch: Dinnergesellschaften aus weltoffenen, kultivierten Menschen, in denen eindeutige Homophobie unwidersprochen im Raum stehen kann? Eine Clique, in der „Schwuchtel“ ganz normale Umgangssprache ist? Klar, das Stück braucht diese Ekligkeiten, um eine gewisse Fallhöhe zu erreichen, aber der Preis ist, dass einem so ziemlich alle Figuren unsympathisch werden.
Was freilich nichts daran ändert, dass „Das perfekte Geheimnis“ höllischen Spaß macht. Man darf sich nur nicht zu sehr mit diesem Freundeskreis aus der Hölle identifizieren. Denn sonst müsste man sich selbst über kurz oder lang die Frage stellen, die einen schließlich in den Abgrund katapultiert: „Was ist nur aus uns geworden?“
„Das perfekte Geheimnis“ wieder 24. bis 29. Mai, 31. Mai bis 4. Juni, 19.30 Uhr, St. Pauli Theater, Karten unter T. 47110666, www.st-pauli-theater.de