Hamburg. Georg Münzel setzt den ersten Roman der „Alle Toten fliegen hoch“-Reihe des Autors und Schauspielers im Altonaer Theater originell um.
Wie hat es der große Joachim Meyerhoff mal so schön formuliert: „Nur durch das Erfinden von Vergangenem sehe ich mich in der Lage, mein Erinnern zu retten.“ Das ist dem Schauspielstar, langjähriges Ensemble-Mitglied am Wiener Burgtheater und einst am Schauspielhaus in Hamburg fest engagiert, auch in Buchform gelungen.
Sein Projekt „Alle Toten fliegen hoch“ ist sowohl auf der Bühne als auch in autobiografisch geprägten Romanen seit mehr als ein Jahrzehnt ein großer Erfolg im gesamten deutschsprachigen Raum. Äußerst Unterhaltsam und mehr oder weniger der Wahrheit verpflichtet schildert Meyerhoff in sechs Teilen seine eigene Lebensgeschichte und die seiner Familie.
Theaterkritik: langer Beifall für die Premiere
Ein gefundenes Fressen auch für das Altonaer Theater (Motto: „Wir spielen Bücher“), das in der Vergangenheit bereits die Teile „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ und „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ adaptiert hatte. Der wurde es Zeit, den von Meyerhoff als Erstes verfassten Stoff der „Alle Toten fliegen hoch“-Reihe zu zeigen: „Amerika.“ Den hatte Regisseur Georg Münzel mit einem achtköpfigen Ensemble Mitte März 2020 bis zur Generalprobe geführt – ehe der erste Corona-Lockdown alles über den Haufen warf. Alle waren an den ersten beiden Meyerhoff-Adaptionen zuvor nicht beteiligt.
Dass sich das Warten und das Festhalten an den Schauspielern gelohnt hat, zeigte sich bei der mit lang anhaltendem, ehrlichen Beifall für alle Beteiligten gefeierten Altonaer Premiere. Münzel setzt in seiner Bühnenfassung den Roman, der vom Austauschjahr des 18 Jahre alten Schülers Joachim aus Schleswig Mitte der 80er in den USA handelt, werk- und sprachgetreu, dabei dennoch originell um. Und so ist es kein Basketball-Stipendium, das dem Schlaks Joachim den USA-Aufenthalt ermöglicht, sondern die Finanzierung durch seine Großeltern.
Provinz statt Metropole
Lukas T. Sperber erzählt das als Hauptfigur vor einer großen Bühnenwand (mit Tür) auf Rollen, die dank Projektionen später zur Prärie wird. Denn der genügsame Provinzling landet - nach einem Auswahlgespräch mit arroganten Großstädtern in Hamburg - und einer beschwerlichem Trip statt in einer Ostküsten-Metropole oder in Kalifornien im Bundesstaat Wyoming.
Kennzeichen: weite Ebenen, kaum Menschen, viele Waffen, große Religiosität. Dumm bis naiv, dass er sich beim Fragebogen-Ausfüllen als Naturliebhaber und gottesfürchtiger Kleinstädter ausgegeben hat. Und sein Zielort Laramie ist nicht nicht mal die Hauptstadt des 500.000-Einwohner-Staates im Westen der USA.
Die Dire Straits – für Joachim nur ein schwacher Trost
Sperber, der schon mit Regisseur Claus Peymann am Schauspiel Stuttgart gearbeitet hat, spielt den Joachim überaus glaubwürdig. Gekonnt changiert er zwischen Komik, wenn er nach englischen Erklärungen sucht, und der Tragik eines leicht verstörten Heranwachsenden. Er möchte trotz des „Kulturschocks“ der familiären Umklammerung der Eltern entkommen, unterbricht ob der Nachricht vom Unfalltod seines Bruders jedoch schweren Herzens sein Austauschjahr –„Brothers in Arms“ (1985) von den Dire Straits sind da nur ein schwacher Trost.
Seine neuerliche Einreise in die USA gerät am New Yorker JFK Airport im wahrsten Sinne zum Seelen-Striptease, birgt aber auch lustige Momente. Die ergeben sich ohnedies, wenn Anne Schieber und Armin Köstler, die auch Joachims Eltern spielen, „Stars and Stripes“-schwenkend in die Rolle von Gastmutter Hazel und -vater Stan schlüpfen.
Typisch Meyerhoff: Norddeutsche Selbstironie
Ohnehin übernehmen fast alle Schauspieler dank schneller Kostümwechsel jeweils mehrere Rollen: Nadja Wünsche gibt etwa die deutsche Freundin ohne Namen, die auch musikalisch überzeugende Chantal Marie Hallfeldt das US-Girl Maureen und Flavio Kiener sowohl Joachims Bruder Martin als auch den fiesen Cop am New Yorker Airport. Alle wirken am Alltag mit, der für Joachim von der Aufstellung des - sehr praxisorientierten - Schulstundenplans als auch später von einer US-landestypischen „Whirlpool-Party“ bereichert wird. Meyerhoffsche norddeutsche Selbstironie inbegriffen.
Und selbst altgedienten, am Altonaer Theater und an den Hamburger Kammerspielen hinlänglich bekannten Akteuren entlockt Regisseur Münzel in seiner zweieinhalbstündigen Inszenierung noch neue Facetten: So überzeugt Ole Schloßhauer komödiantisch als Drill-Meister mit Trillerpfeife und Coach Carter mit einem Faible für deutsche Schäferhunde. Mit der Folge, dass der talentfreie Joachim als „The German“ in Basketballteam der Schule sogar noch recht groß rauskommt, obwohl er bekennt: „Ich habe nie mehr als zwei Punkte pro Spiel gemacht.“
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Und Jacques Ullrich schafft es mit Cowboyhut, als oft vom Bühnenrand kommentierender, zum Tode verurteilter Doppelmörder Randy Hart sowohl zum Publikum als zum jungen Joachim einen Draht aufzubauen. Seit 16 Jahren sitzt dieser Deutsch sprechende mutmaßliche Täter im Todestrakt des Gefängnisses. Indem Ullrich und Sperber ihre Briefwechsel laut sprechen, bekommt das Thema Todesstrafe in „Amerika“ ungeahntes Gewicht.
Als ein anderer Joachim, als junger Mann, kehrt Meyerhoff schließlich nach Deutschland zurück. So weit zumindest seine Erinnerung. Wie lange sich das Publikum in Altona an „Amerika“ erinnert, wird sich zeigen. Kurzzeitig wirkt diese Erinnerung in jedem Fall.
„Alle Toten fliegen hoch – Amerika“ wieder Do 12.5., 19.30, bis 19.6., Altonaer Theater (S Altona), Museumstr. 17, Karten zu 16,- bis 34,-: T. 39 90 58 70; www.altonaer-theater.de