Hamburg. Dem Thalia-Theaterspektakel „Hymnen an die Nacht“ ist coronabedingt das Zentrum abhanden gekommen. Gespielt und gesungen wird dennoch.
Arme Charlotte Sprenger. Die 1990 als Tochter des Schauspielerpaares Wolf-Dietrich Sprenger und Victoria Trauttmansdorff in Hamburg geborene Theatermacherin gilt als riesiges Talent: Regieassistentin in Köln, ihre eigene Regiearbeit „Alles, was ich nicht erinnere“ wurde zum Münchner Festival „Radikal jung“ eingeladen.
Und auch am Thalia in der Gaußstraße inszenierte sie: Saša Stanišićs Ostdeutschland-Ballade „Vor dem Fest“, „Opening Night“ als Open-Air-Theater, „Die Politiker“ Lockdown-bedingt als Hybridstück. Und an diesem Wochenende: ihre erste Inszenierung im Großen Haus am Alstertor! „Der Sandmann“, Musiktheater von Anna Calvi und Robert Wilson nach E.T.A. Hoffmann, als Zentrum des Spektakels „Hymnen an die Nacht“, das die gesamte Innenstadt in einen frühsommerlichen Theaterrausch verstricken sollte. Ganz große, barocke Bühnenlust.
Theater Hamburg: „Der Sandmann“ fällt aus
Doch jetzt die Enttäuschung: „Der Sandmann“ kann nicht stattfinden. Es gibt Corona-Fälle im Ensemble, die Premiere ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Aber der Abend hätte eben ein ganzes Theaterfest rund um den „Sandmann“ sein sollen, weswegen die übrigen „Hymnen an die Nacht“ jetzt ebenfalls in Schieflage sind, auch wenn sich die Ausfälle dort in Grenzen halten.
Aktuell ist ausschließlich Schauspieler Tim Porath Corona-positiv, der im Mittelrangfoyer im Solostück „Einhandsegeln“ hätte agieren sollen, auch Dor Alonis „La Belle Et La Bête“ fällt aus, aber für beides konnte Ersatz gefunden werden.
„Hymnen“-Konzept bleibt bestehen
Das grundsätzliche „Hymnen“-Konzept steht also nicht zur Disposition: Geplant ist ein Spektakel ab 17 Uhr, mit performativen Stadtrundgängen durch unter anderem die Kunsthalle, die Hapag-Lloyd-Kantine und die Handelskammer, mit einem „Tonight“-Programm auch in der Petrikirche und im Café des Artistes und „Nachtkunst“ weit nach Mitternacht, zwei eigenständigen Inszenierungen in der Theaterbar Nachtasyl.
Nur der Mittelpunkt, Sprengers „Sandmann“ ab 20 Uhr auf der Hauptbühne, der fällt aus. Stattdessen gibt es ein einstündiges Konzert, mit Ensemblemitgliedern und „Songs from Sandmann“, dazu Lorenz Noltings Kurz-„Woyzeck“. Aber funktioniert ein Spektakel, wenn das Zentrum des Spektakels ausfällt?
„Dieses Fieber kriegt man auf jeden Fall“
Matthias Günther ist mit Nadin Schumacher mit der künstlerischen Gesamtleitung der „Hymnen an die Nacht“ betraut, der Thalia-Dramaturg glaubt: ja. „Wir versuchen, das Spektakel aufrechtzuerhalten“, beschreibt er die Planung für den Abend, bei dem das Fieber einer theatralen Überforderung weitergeben werden soll: „Dieses Fieber kriegt man auf jeden Fall.“
Schon der Beginn um 17 Uhr ist ein Gewaltmarsch, aber ein positiver, der den zwiespältigen Zauber des Anfangs in sich trägt. „Es geht um einen Aufbruch in die Nacht. Diese abendlichen Aufbrüche sind immer etwas merkwürdige Traumspiele oder sogar Albtraumspiele.“
Theatermacher gleichzeitig enttäuscht und begeistert
Wer weiß, vielleicht ist es ganz gut, dass auf diese Überforderung keine fertig ausgearbeitete Inszenierung folgt, sondern nur ein Konzert? Ist es womöglich gar nicht schade, dass „Der Sandmann“ ausfällt? Günther widerspricht: „Das ist schon schlimm, das ist ja klar. Aber es hilft ja nichts.“
Zumal er mit unzähligen Künstlern an den „Hymnen an die Nacht“ gearbeitet hatte: „Es wäre auch wahnsinnig traurig, wenn wir die anderen zwölf Produktionen komplett absagen würden.“ Günther ist gleichzeitig enttäuscht und begeistert, ein Theatermacher, der es gewohnt ist, dass sich Probleme lösen lassen und dass diese Lösung eine Chance für berührende Kunst mit sich bringt.
Theater Hamburg: Hauptgang ist verunglückt
Den Abend beschreibt Günther mit einem Gleichnis aus dem Bereich der Kulinarik: Die Touren ab 17 Uhr sind der Aperitif, das „Tonight“-Programm ist das Dessert, die „Nachtkunst“-Performances sind der Digestif. Der Hauptgang wäre in dieser Menüfolge entsprechend „Der Sandmann“, und, ja, der Hauptgang ist verunglückt, und was stattdessen auf den Tisch kommt, ist kreativ zusammenimprovisiert. Wobei das nicht heißt, dass er nicht schmecken würde. Überhaupt: Die Qualität eines Menüs liegt in seiner Gesamtheit, nicht an einem einzelnen Gang.
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Und schließlich: Bei der Premiere mag „Der Sandmann“ nicht zu sehen sein, aber Günther ist optimistisch, dass das gesamte Spektakel noch diese Saison auf die Bühne und zu seinem Live-Publikum kommen wird. „Wir wollen das noch dreimal in dieser Spielzeit machen.“
„Hymnen an die Nacht“: 26.3. 17 Uhr, Thalia Theater und Innenstadt, Tickets unter T. 040 / 32814444, vollständiges Programm: www.thalia-theater.de