Hamburg. Ein Erlebnis: Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Yannick Nézet-Séguin und Beatrice Rana in der Elbphilharmonie.
Hans Abrahamsen kann nicht anders, als kompliziert zu schreiben. Immerhin bittet er in der Partitur seines neuen Werks „Vers le silence“ ausdrücklich um Entschuldigung für die „unangenehme Polyrhythmik“: Da sollen etwa Dreier-, Fünfer-, Siebener-, Neuner- und Elfergruppen gleichzeitig erklingen. Das Ohr, das ein solches Gewirk auseinanderhalten kann, ist ziemlich sicher kein menschliches.
Gewiefte Musiker zücken in solchen Fällen nicht den Rechenschieber, sondern lassen Pragmatismus walten. Ob das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wirklich alles so spielt, wie Abrahamsen es notiert hat? Darauf kommt es nicht an. Denn entscheidend ist bekanntlich, was hinten herauskommt. Und was an diesem Abend im Großen Saal der Elbphilharmonie schwebt, flirrt, tropft und zart klagt, das hat akustisch so gar nichts von Schreibtisch, Mathematik oder Theorie. Es ist ein klingendes Naturbild. Auch ein Wald lässt sich naturwissenschaftlich fassen, dem unbefangenen Betrachter aber bietet sich ein beseeltes Stück Welt dar, über dessen innere Organisation er sich keine Gedanken macht.
Klingende Naturbilder in der Elbphilharmonie – 99 Musiker auf der Bühne
„Vers le silence“ füllt mit Klavier, Celesta, zwei Harfen und einer ganzen Schlagwerk-Armada locker die ganze Bühne. 99 Musiker zählt ein Besucher, dazu kommt der Dirigent Yannick Nézet-Séguin. Was für ein Aufwand! Dabei geht es nicht um Lautstärke, sondern um Differenzierung. Jeder der Sätze bewegt sich hin zur titelgebenden Stille, die Satzenden sind also am leisesten. Das ist dramaturgisch als eine Art umgekehrter Klimax etwas gewöhnungsbedürftig, schärft aber die Ohren. Auf dem Weg zum dynamischen Nullpunkt entfaltet Abrahamsen einen wahren Klangfarbenzauber. Erforscht mal die Möglichkeiten des Fagotts und lässt mal die Kontrabässe irisierende Flageolett-Klänge produzieren. Ein haptisches Erlebnis, passend zum diesjährigen Musikfest-Motto „Natur“.
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Es ist fast unmöglich, das Klavierkonzert von Clara Schumann zu hören, ohne an das ihres Mannes Robert zu denken. Dabei müsste es eigentlich heißen: Klavierkonzert von Clara Wieck, sie schrieb es nämlich als (unverheirateter) Teenager. Und das hört man. Die Komponistin nimmt sich allerhand Freiheiten, baut bezaubernde Cello-Soli ein und schert sich nicht um den überbrachten Satzbau.
Elbphilharmonie: Zugabe spielen Pianistin und Dirigent vierhändig
Beatrice Rana ist eine berufene Interpretin für das individuelle, einfallsreiche Stück, sie singt die Themen in aller Ruhe aus und leuchtet in alle Winkel. Und für die Zugabe setzt sich Nézet-Séguin zu ihr auf die Klavierbank für einen vierhändigen, zärtlich wiegenden Walzer von Brahms.
Diskreter kann man die Verbindung zwischen Clara und Johannes nicht andeuten. Das Programm schließt mit der Dritten von Brahms, und die präsentiert sich unter Nézet-Séguins temperamentvoller Leitung als Quell der Lebensfreude. Die Holzbläser spielen kammermusikalisch innig mit den Geigen zusammen, und das Tutti kann so richtig aufdrehen – um im nächsten Moment fast unhörbar leise zu werden, als wollten die Musiker das Publikum narren: War was?
Das Ende verklingt in samtweichem pianissimo. Ein Schluss in Stille, das ist doch in Abrahamsens Sinne.