Hamburg. 8000 Fans segelten mit den Förde-Schlager-Rockern von Irland bis nach Californio – das hat man schon mitreißender erlebt.

Brrrr. Ist das kalt. Auf der die ganze Bühnenbreite einnehmenden Videowand in der Barclays Arena tobt am Sonntag ein arktischer Sturm, Effektschnee rieselt von der Decke und aus den Boxen rollt wie eine Lawine „Wenn die Kälte kommt“ vom gleichnamigen neuen Santiano-Album. „Fröhliche Weihnachten“, ruft Sänger und Bassist Björn Both, und sein großer Piratenohrring schaukelt, als er lacht. Für die Fans in der Arena ist tatsächlich Weihnachten: Endlich wieder 140 Minuten Shanty-Schlager-Folk-Rock auf einer Reise von Irland bis nach Californio. Überall ist „Wasser, Wasser, Wasser und wir haben nichts zu trinken.“ Und weit und breit keinen Feudel zum Aufwischen.

Für die Fans ist natürlich vor allem wichtig, dass der Tourdampfer von Santiano überhaupt in Hamburg anlegen konnte. Die vorher geplanten Konzerte in Oberhausen, Braunschweig, Stuttgart, Mannheim und Köln mussten kurzfristig verschoben werden, weil in der Band ein Magen-Darm-Virus umging. Liest man alte Tour-Tagebücher der Jungs, scheint das mittlerweile schon zur Folklore zu gehören, auch im Geburtstagsjahr.

Barclays Arena: Vor zehn Jahren erschien das erste Santiano-Album

Vor zehn Jahren wurde das erste Album „Bis ans Ende der Welt“ der Spätzünder aus dem Flensburger Raum veröffentlicht. „Wenn die Kälte kommt“ ist mittlerweile das fünfte Nummer-eins-Album in Folge, und die von Santiano besetzte Nische zwischen Wacken Open Air und Full Metal Cruise sowie „ZDF-Fernsehgarten“ und Helene Fischer ist offensichtlich immer noch so gemütlich wie erfolgversprechend. Allerdings sind nur 8000 Landratten und Salzbuckel in der bestuhlten Barclays Arena versammelt. In den Vorjahren kamen mehr, das mag den mehrfachen pandemischen Verschiebungen und den aktuellen Umständen geschuldet sein oder auch der Tatsache, dass sich Santiano über die Jahre verändert hat.

Die ersten Alben bis „Im Auge des Sturms“ (2017) klangen noch wie die Finkwarder Speeldeel mit Stromgitarren unterlegt. Und bis heute gerät auch der hartgesottenste Beobachter nach drei Liedern unweigerlich ins Mitschunkeln, denn Santiano steht für Rock-Rhythmus, bei dem man mit muss, für so simple wie eingängige maritime Texte und einen Heidenspaß mit ’ner Buddel voll Rum. Das Freddy-Quinn-Prinzip des 21. Jahrhunderts.

Bei „Wenn die Kälte kommt“ hingegen ist die Stimmung überwiegend gedrückt und nachdenklich auf dem alten Viermaster Santiano, die Katastrophe droht, der Untergang. Hoffnung ist nur ein blasser Schimmer am Horizont. Rum ist auch keiner mehr da. „Ich weiß auch nicht, was uns da geritten hat. Wirtschaftlicher Masochismus vielleicht“, scherzte Both 2021 im Abendblatt-Interview.

Die alten Santiano-Hits rissen alle von den Sitzen

Die Platte ist jedenfalls anders, und auch live erinnern absolute Professio­nalität und ausgefeilte Videoeinspieler kaum noch daran, dass Santiano seinerzeit ein aus einer Schnapsidee geborenes Spaßprojekt von in die Jahre gekommenen Musikern war, das kommerziell sofort völlig eskalierte.

Nicht, dass das Publikum in Hamburg vor der Meuterei steht und schon drohend die Kanonenkugeln über die Decksplanken rollt. Es gibt ja genug Klassiker auf der Setliste, und die Stimmung ist bei „Salz auf unserer Haut“, „Land Of Green“, „Likedeeler“ und dem mit dem „Das Boot“-Thema spielenden „Könnt ihr mich hören“ ausgelassen, das Gestühl überflüssig und die Hände sind wundgeklatscht. Sogar die in seichten Fahrwassern knirschend auflaufende Ballade „Ein Leben lang“ wird von Hunderten Handy-LEDs ausgeleuchtet.

Björn Both, Pete Sage an der Fiedel, Timsen Hinrichsen an der Gitarre und Axel Stosberg an Tamburin und Rasseln legen sich spielend und singend ins Zeug. Gleich drei weitere Tourmusiker füllen mittlerweile zusätzlich die Lücken, die der aus gesundheitlichen Gründen seit vielen Jahren nicht mehr mitreisende Sänger und Gitarrist Andreas Fahnert hinterlassen hatte.

Santiano-Konzert: Streckenweise herrscht auffällige Flaute im Saal

Und doch herrscht streckenweise auffällige Flaute im Saal an diesem Konzertabend. Für einen Santiano-Konzertabend, wohlgemerkt. Mit Ansagen wie „Was ist der Strohhalm, wenn du am Boden liegst und nicht mehr kannst?“, zieht Both das Publikum runter, so mancher im Publikum rührt betreten mit seinem Papierstrohhalm im Cocktailbecher. „Steh auf“, „Nicht umsonst gelebt“, „Garten Eden“, „Ich bring dich heim“: Ein Downer folgt dem nächsten. Weltuntergang 2052, Klimawandel, bedrohte Freiheit, Krieg. „Putin gehört nach Den Haag“, ruft Björn Both und besingt mit der Melodie von Mike Oldfields „To France“ die „Lieder der Freiheit“.

Aktuell und ehrenwert ist das alles, Santiano zeigte schon immer Haltung und hat über die Jahre mit Ansagen gegen die AfD oder für Fridays for Future sicher auch Teile der überwiegend älteren Fanbasis über die Planke geschickt. Dennoch ist allgemeine Erleichterung und Erheiterung zu spüren, als die Band mit „Hooray For Whiskey“ und „Gott muss ein Seemann sein“ wieder Wind in die Segel bekommt.

Anschließend werden die Stückpforten geöffnet und die 18-Pfünder mit Hits und Konfetti geladen: „Santiano“, „Auf nach Californio“, und „Es gibt nur Wasser“ schicken die 8000 dorthin, wo sie herkamen. In das Land, wo raue Winde wehen, das Land in dem sie wohnen, das Land, aus dem sie sind: „Hoch im Norden“.