Hamburg. Das Kyiv Symphony Orchestra beendete seine Deutschland-Tournee im Großen Saal der Elbphilharmonie. Mehr als „nur“ ein Konzert.

Als die Musikerinnen und Musiker des Kyiv Symphony Orchestra (KSO) am Sonntag die Bühne betraten, wurden sie im nahezu voll besetzten Großen Saal der Elbphilharmonie nicht mit dem üblichen, netten Pauschal-Beifall für unfallfreies Auftreten bedacht. Sie wurden mit einer deutlich intensiveren, längeren Version empfangen, die Bewunderung, beeindruckten Dank und viel Mitgefühl signalisierte. Für ihr Hiersein, Putins Invasion trotzend; für eine Leistung, die niemand ohne ukrainischen Pass nachempfinden kann. Musik zu spielen, Kunst entstehen zu lassen, während die Heimat angegriffen und zerbombt wird.

Generalintendant Christoph Lieben-Seutter begrüßte das Orchester als „Botschafter eines freien, unabhängigen und demokratischen Landes“. Diese Botschafter spielen also Musik aus dieser Heimat, um dem Rest der Welt und erst recht dem Aggressor im Moskauer Kreml so zu zeigen: Wir sind da. Es gibt uns. Wir geben nichts und niemand auf, ganz bestimmt nicht. Wie macht man das? Wie schafft man das? Man setzt sich hin und spielt.

Kyiv Symphony Orchestra in der Elbphilharmonie: Mehr als „nur“ ein Konzert

Kein einfacher Abend, viel mehr als „nur“ ein schönes, interessantes Konzert. Sieben Deutschland-Tournee-Termine in sieben Tagen, nur erste Adressen, ein Stress-Level, das kein „normales“ Orchester schon unter „normalen“ Umständen aushalten und mitmachen würde. Dieses doch, erst recht. Dann begann das Gastspiel, das vor allem Ukrainisches präsentierte, auch noch mit einem Nationalheiligtum.

Die C-Dur Sinfonie von Maxim Beresowki, um 1771 komponiert, wird von der Ukraine – aber auch von Russland – als ein Fundament der jeweils eigenen Musikgeschichte angesehen. Dreisätzig nur, freundlich, charmant, und federnd leicht zum Leben erweckt. Nahe an Mozart, noch näher an Haydn, ein großer kleinerer Meister, vom KSO so schwungvoll und lieblich behutsam als Erbstück vorgestellt, als wäre es das gute, zerbrechliche Sonntagsgeschirr, das für die besonderen Anlässe und die liebsten Gäste.

Kyiv Symphony Orchestra wirkt erschütternd erschöpft

Hier war das KSO noch frisch, man konnte hören, sehen und spüren, dass dieser Klassiker ihnen großes Vergnügen bereitete. Im Laufe des Abends ließ die Leistungsfähigkeit des KSO nach, der Glanz des Streicherklangs verblasste, die Blechbläser arbeiteten mehr, als dass sie spielten, die Binnendynamik im Holzbläser-Satz hatte so ihre Abstimmungs-Höhen und Tiefen.

Normalerweise ein Anlass für kritischen Punktabzug, dass dieses oder jenes doch gern etwas besser hätte sein sollen und dass Mühe allein leider nicht genügen würde. Hier allerdings: völlig irrelevant, weniger noch als völlig irrelevant, sich moralisch verbietend. In seinem Zustand, in dieser Gegenwart, nach dieser Kräfte verbrennenden Tournee hatte das KSO alles Recht der Welt, seine erschütternde Erschöpfung nicht verbergen oder buchstäblich überspielen zu müssen. Das galt auch für den Chefdirigenten Luigi Gaggero, Italiener und von Haus aus Zimbel-Virtuose und Schlagzeuger.

Zerrissene, sich aufbäumende, sehr eigenwillige Kunst

Auf Beresowski Schmuckstückchen folgte als Auswärts-Gast der Franzose Chausson, dessen „Poème“ der junge Geiger Aleksey Semenenko mit großer Traurigkeit durchlitt und ebenso auch umarmte. Erste Zugabe, noch im regulären Programm, war die pathossatte „Melodie“ a-Moll von Myroslaw Skoryk, die in seiner ukrainischen Heimat wohl ausgesprochen bekannt ist. Ein noch melancholischeres, noch melodiensüffigeres Herz-Schmerz-Stück, von Zuversicht und Leidenschaft ummantelt. Wenig Licht, viel Schatten. Semenenko hatte damit zu kämpfen und blieb mit seiner Zugabe in diesem Gefühlsraum, er kombinierte eine Bach-Sarabande mit einem Solo von Valentin Silvestrov, das in sich zusammenfiel, bis nur noch vier Pizzicato-Töne in die Stille gingen.

Längste Entdeckung des Konzerts: die Dritte von Borys Ljatoschynskyj, ein Zeit-Stück aus der Stalin-Ära. Das für damalige Machtverhältnisse zu negative Finale musste Ljatoschynskyj auf Druck von oben ändern. Musik, die aus vielen Einzelmomenten ein schwer fassbares Mosaik bildete, die gern dort rechts abbog, wo Schostakowitsch sich nach links orientiert hätte. Zerrissene, sich aufbäumende, sehr eigenwillige Kunst.

Elbphilharmonie: Kyiv Symphony Orchestra mit ergreifender Zugabe

Als erste Zugabe rief Gaggero eine Kostprobe aus „Taras Bulba“ auf, die Vertonung des Heldenlebens jenes freiheitsliebenden Kosaken, über den Gogol eines seiner Meisterwerke geschrieben hatte. Aber nicht, wie bekannt, durch den Tschechen Janacek vertont, sondern – die nächste, letzte Rarität – vom Ukrainer Mykola Lysenko, einem Zeitgenossen Tschaikowskys.

Einzig mögliche letzte Zugabe danach war die ukrainische Hymne, für die zwei Kontrabassisten ihre blau-gelbe Nationalfahne zwischen sich aufspannten. Und während das Publikum ergriffen applaudierte, ging Gaggero, der sich inzwischen das Hemd aus der Hose dirigiert hatte, von der Bühne, schwer beladen, langsam, nachdenklich statt nur zufrieden, gezeichnet wie ein viel älterer Mann: Eine KSO-Mitarbeiterin ist kürzlich bei einem russischen Raketenangriff in der Ukraine getötet worden. Nach einer kurzen Erholungspause soll die patriotische Tournee im Westen weitergehen, die Planung dafür läuft. Es ist Krieg.