Hamburg. Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester ließen in der Elbphilharmonie mit Mahlers Dritter Sinfonie die Zeit vergessen.

Alle Lust will Ewigkeit. Das ist von Friedrich Nietzsche, Gustav Mahler hat es vertont. Just als die Altistin Gerhild Romberger die Worte auf den Flügeln ihres rotgoldenen Stimmklangs in die Weiten der Elbphilharmonie entschweben lässt, senkt der Herr auf dem Nebensitz den Kopf, um einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. Er ist womöglich der Einzige im Saal, der in diesem Moment über die Uhrzeit informiert ist. Darüber, wie viele Minuten und Sekunden nach den Maßstäben der sogenannten Realität vertickt sind, seit Kent Nagano den acht Hornisten des Philharmonischen Staatsorchesters den Einsatz zu ihrer Unisono-Fanfare gegeben hat.

Die Beteiligten haben die physikalischen Gesetze der Zeit an diesem Musikfest-Abend aufgehoben. Gustav Mahlers Dritte Sinfonie ist Gegenwart, nichts als klingende, erschütternde, alles infrage stellende Gegenwart, und Gerhild Romberger, aus dem ersten Rang singend, ist ihre Priesterin.

Konzertkritik: Innere Verbindung zwischen Dirigent und Musikern

Mit den üblichen Hörerwartungen an eine Sinfonie kommt man bei der Dritten nicht weit. Im endlosen ersten Satz, der hier „Erste Abteilung“ heißt, entwickelt der Komponist keinen Erzählfluss, vielmehr fügt Mahler Fragmente aneinander. Die Herausforderung besteht darin, die dissonanten Aufschreie der Holzbläser, die geisterhaften Streichertremoli und ironisch leisen Marsch-Bruchstücke nicht einfach nur blank geputzt nebeneinanderzustellen, sondern den inneren Zusammenhang zu wahren. Dafür gibt es kein Rezept. An Naganos sparsamen, manchmal sperrigen Bewegungen ist es nicht abzulesen, wie es gelingt, aber: Es gelingt. Die Verbindung zwischen Dirigent und Musikern spielt sich anderswo ab.

Durch den Satz zieht sich eine untergründige Spannung, über alle Brüche hinweg und obwohl Nagano einige Teile durchaus langsam nimmt. Auch das wieder ein Lehrstück über die Subjektivität des Zeitempfindens. Kleinigkeiten wie der Unterschied zwischen Sechzehnteln und Triolachteln bekommen eine fühlbare Bedeutung. Sie sind wie mit dem Skalpell herauspräpariert. Dass einige wenige Male etwas nicht restlos zusammenklingt – geschenkt.

Nagano hält Lautstärke am Köcheln

Der Dirigent hält die Lautstärke über weite Strecken im Untergrund am Köcheln. Ab und zu schießt ein Crescendo heraus und fällt wieder in sich zusammen. Solche Momente scheinen unmittelbar von Mahlers Seelenleben zu sprechen. Für sinnbefreite Fortissimo-Keulen ist Nagano ja eher nicht bekannt. Umso stärker wirken die Momente, in denen die Blechbläser so aufdrehen, dass neben dem Existenziellen, unerträglich Schmerzhaften an dieser Musik nichts anderes mehr Platz hat, weder akustisch noch emotional.

Hervorragend disponiert sind die vielen Herren von der Blechfraktion und die eine junge Kollegin am fünften Horn. Miteinander decken sie das ganze Spek­trum von nach innen gewendeter Trostlosigkeit über bedrohliches Piano bis zu überkippender Euphorie ab.

Ein Horn, das wehmütige Erinnerungen hervorruft

Jede Mahler-Sinfonie hat ihre anekdotischen Stellen. Zur Dritten kursieren seit jeher die Satzüberschriften, die der Komponist ursprünglich notiert, aber für die Drucklegung wieder entfernt hatte. Er wollte nicht, dass die Sinfonie als Programmmusik gedeutet wurde, dass das Publikum im zweiten Satz (dem ersten der „Zweiten Abteilung“) „Was mir die Blumen erzählen“ an die Fauna der Gegend um den Attersee dachte, wo das Werk entstand. Auch ohne diese Assoziation entfaltet der Satz tänzerischen Charme mit seinen unschuldigen Geigenkantilenen und den kammermusikalischen Stellen von Horn, Flöte und Solovioline.

Matthias Höfs spielte das Posthorn hinter der Bühne, um fern und zart zu klingen.
Matthias Höfs spielte das Posthorn hinter der Bühne, um fern und zart zu klingen. © Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Der Star des folgenden Satzes ist natürlich das Posthorn, auch wenn es nicht zu sehen ist. Der ferne, zarte Klang, der durch die Absenz des Instruments erzeugt wird, verbindet sich mit den Liegetönen der Geigen, die kaum mehr sind als ein Zittern der Luft, zu reinster Erinnerungswehmut. Gespielt wird das Posthörnchen hinter der Bühne vom Trompeter Matthias Höfs, das Konzertgeschehen verfolgt er via Bildschirm. Höfs war einst Solotrompeter des Orchesters und ist heute ein gefragter Solist und Hochschulprofessor. Übrigens ist er der Vater von Tillmann Höfs, der an diesem Abend als Gast am ersten Horn eine exzellente Figur macht.

Konzertkritik: Konzert ganz im Sinne des Komponisten Mahler

Die Altistin Gerhild Romberger singt den Auszug aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, den Mahler im vierten Satz vertont hat, mit überirdischer Ruhe und geradezu majestätischer Präsenz. Und auch den naiven Kinderglauben des fünften Satzes nimmt man ihr ab, genau wie den exzellent artikulierenden Damen des Staatschors Latvija und dem Hamburger Knabenchor, der sein „Bimm bamm“ vielleicht noch etwas hätte schärfen können.

Der letzte Satz gerät zu einem großen, allumfassenden Bekenntnis. Weit schwingen die Phrasen, der Klang ist warm und rund und kohärent. Nagano und die Seinen schaffen an diesem Abend die Synthese von Vergeistigung und emotionaler Hingabe. Ganz in Mahlers Sinne.