Hamburg. „Breaking the Waves“ hieß die spektakuläre, doch zarte Licht-Show der Gruppe DRIFT. So lief die Eröffnung des Musikfests Hamburg.
1827 vertonte Schubert für seine „Winterreise“ auch diese Zeilen: „Am Brunnen vor dem Thore / Da steht ein Lindenbaum: / Ich träumt’ in seinem Schatten / So manchen süßen Traum.“ 195 Jahre und viele epochale Ereignisse später begann die Philosophin Svenja Flaßpöhler, ob nun gewollt oder nur zufällig, ihre Rede zur Eröffnung des Musikfests vor den geladenen Gästen im Kleinen Saal der Elbphilharmonie unter der Überschrift „Der Wahn der Wünsche“ deutlich ernüchternder: „Vor unserem Haus in Berlin stirbt gerade eine Linde.“
Elbphilharmonie: Auch der Name Putin kam ins Bild
Geschichten wiederholen sich, erst recht die unschönsten, nur: immer wieder anders, wenn man Pech hat. Diese eine Linde ist gerade längst nicht das einzige, was stirbt. Nicht nur der süße Traum eines namenlosen Weltenwanderers, den Schubert in Noten setzte, scheint bis auf weiteres dramatisch ausgeträumt. Krieg in der Ukraine, Klimawandel, und die Corona-Pandemie ist übrigens auch noch da. „Wünschen und Handeln klaffen radikal auseinander“, fuhr Flaßpöhler in ihrer Gegenwartsbetrachtung fort, um von dort aus sehr groß auszuholen.
Es dauerte also nicht sehr lang, bis der Name Wladimir Putin ins Bild kam, und die Ansicht, dass Narzissmus seinen Gewinn daraus ziehe, „dass die Welt an unseren Wünschen zugrunde gehe“. O-Ton später Hitler, passend provokant dazuzitiert: „Wir können untergehen, aber wir werden unsere Welt mitnehmen.“ Angesichts der aktuellen Krisen sei „das Prinzip Hoffnung im Atomzeitalter fehl am Platz“, dachte Flaßpöhler weiter laut über das Jetzt und die Zukunft nach und betonte auch, wie sehr sie gerade jetzt auf „Welt- statt Selbstentwicklung“ hoffen würde.
Elbphilharmonie bei Haydns "Schöpfung" nahezu ausverkauft
Einer idyllischen, von Glauben und Freundlichkeit getragenen Welt konnte man anschließend, einen Konzertsaal weiter, beim wohltönenden Werden zuhören. Passendst zum diesjährigen Musikfest-Leitmotiv „Natur“ eröffneten Alan Gilbert und sein NDR-Orchester das Festival-Sortiment mit Haydns „Schöpfung“, vor nahezu komplett verkauften Reihen im Großen Saal.
Auch das ein Anblick, ein Kollektiverlebnis, an das man sich immer wieder erst gewöhnen muss. Liebliche, optimistische, von Schönheitsempfinden und -sehnsucht geprägte Musik sollte sich manifestieren, vom Wiener Klassiker des Optimismus in epischer Breite und mit lieblicher Leichtigkeit der Ausdrucksmittel verewigt. Genauso organisierte und formte Gilbert sie dann auch: Historisch informierte Befindlichkeiten traten in den Hintergrund. Dass immerhin ein stilgemäß sinnvoller Hammerflügel für die Begleitung der Rezitative in den modernen Orchester-Apparat gestellt worden war, blieb eine eher kleine Geschmacks-Beilage.
Lichtspektakel mit Hunderten Drohnen: "Breaking Waves"
Dieses Stück sollte mit Macht frohlocken und lobpreisen. Dieser Gott, wie Haydn ihn hörte und Gilbert ihn porträtierte, war kein nur strafender Erziehungsberechtigter, der wollte Bestes. Da fiel es weder auf noch groß ins Gewicht, wie visionär Haydn seiner Gegenwart voraus war.
Begeisterter, staunender Beifall in der Elbphilharmonie
Sehr schön wäre gewesen, wenn die meisterhafte in Tönen inszenierte Einleitung, die „Vorstellung des Chaos“, markant existenzieller passiert wäre. Als eine Labor-Anordnung, aus der letztlich die C-Dur-Triumphsekunden auf dem Wort „Licht“ in der Chor-Textzeile „Und es ward Licht“ herausexplodierte. Gilbert ließ diese Eröffnungsszene gezügelter und harmloser angehen; so blieb die Wirkung im Schönen, ohne durch drastische Schärfung der Kontraste das Erschütternde zu erreichen.
Fein gezeichnet gelangen die Rezitative, die fast fotorealistischen Schilderungen der Schöpfungs-Abschnitte und ebenso die Ensemble-Abschnitte. Die drei Solo-Stimmen waren gut ausgewählt, um diesen Teil der Aufführung schlank und präsent zu halten: Christina Landshamers Sopran, Benjamin Huletts Tenor und insbesondere der geschmeidige Bariton von Benjamin Appl ergänzten sich und trugen einander. Und die kombinierten Chöre von NDR und WDR schienen schon durch das endlich wieder groß besetzte Beisammensein zum Bestmöglichen entschlossen. Begeisterter, staunender Beifall, was auch sonst.
"Breaking Waves": Ein poetisches Open-Air-Nachdenken
Staunen anderer Art folgte später am Abend, als sich der langsame Satz aus Thomas Adès‘ Klavierkonzert, eine Erinnerung an das Jubiläumskonzert zum 5. Geburtstag der Elbphilharmonie im Januar, in Licht, Form und Bewegung materialisierte, rund um die Elbphilharmonie herum. „Breaking Waves“ hatte das niederländische Künstler-Kollektiv DRIFT seine Arbeit getauft, Hunderte Drohnen im Formationsflug umschwirrten das Konzerthaus wie verliebte Motten das Licht. Ein Event aus Bildern, Videos und Smartphone-Dokumentation, wie gemacht für die Selbst- und Stadtvermarktung der Kulturmetropole.
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Aber auch ein ganz ruhiges, sehr poetisches Open-Air-Nachdenken über die Vergänglichkeit des Schönen. Getragen sogar von einem technischen Hilfsmittel, das einige Flugstunden entfernt zum Werkzeugkasten eines Krieges zählt. Hier kann es seine zauberhafte Wirkung ausüben, auf jeden einzelnen in der Masse der Beobachtenden. Und dann, kurz darauf, sich wieder in das Nichts auflösen, das es für wenige Minuten nicht war.
Elbphilharmonie: Drohnen-Show wirkt ziellos schön
Mitten in der windigen Hamburger Hafennacht endete dieses erhellende, so ungemein beseelt und ziellos schön wirkende Technik-Erscheinung mit dem Verlöschen der 300 Drohnen-Lampen, die unsichtbar ihren Wirkungsort verließen, um wie erschöpfte Zugvögel auf dem südlichen Elbufer zu übernachten. Flaßpöhlers Vortrag hatte einige Stunden zuvor mit ihrer individuellen Erkenntnis geendet, dass sie während dieser Gegenwart in sich eine überraschende Sensibilität für die Natur entdeckt habe. „Wer weiß, vielleicht wächst sie gerade unmerklich in uns allen.“
Das hätte das Happy End dieser Nacht sein können, die erste von vier Flugrunden. Doch es kam ganz anders: Am Freitagabend sagte die Elbphilharmonie das Spektakel-Wochenende in Abstimmung mit den Luftsicherheitsbehörden komplett ab: Bei der Generalprobe und der Premiere sei die Kunstaktion durch „fremde Hochgeschwindigkeitsdrohnen massiv gestört“ worden, die Folge: Kollisionen und Abstürze. Nie vorher habe es in Deutschland Störungen des Luftverkehrs in dieser Intensität und Aggressivität gegeben. Weil man eine Wiederholung nicht ausschließen könne, sei zum Schutze der Zuschauer und Mitarbeitenden eine Fortführung von „Breaking Waves“ nicht verantwortbar. Der Himmel über diesem Teil der Elbe wird also dunkel bleiben müssen.
Das Konzert wird am heutigen Freitag, 20 Uhr, wiederholt und als Livestream in der Mediathek der Elbphilharmonie sowie live auf NDR Kultur übertragen. „Breaking Waves“: 29./30. 4, 1.5., jeweils 22.30 Uhr. Weitere Infos, auch über DRIFT und die Barkassenfahrten: www.elbphilharmonie.de