Hamburg. An den Hamburger Kammerspielen beharken sich Simone Rethel-Heesters und Daniela Ziegler in „Die Reissleine“.

Nicht einmal im freien Fall macht der Zickenkrieg Pause. Furchtlos baumeln die beiden behelmten Hauptdarstellerinnen unter dem Schnürboden der Hamburger Kammerspiele und verteilen großzügig ihre Giftspritzen. „Die Reissleine“, nach der die böse Komödie von David Lindsay-Abaire benannt ist, wird am Fallschirm rechtzeitig gezogen. In ihrer gemeinsamen Wette hingegen gehen die Seniorinnen Abby und Marilyn immer weiter über Grenzen, insbesondere jene des guten Geschmacks.

Sie sind im Altersheim Zimmergenossinnen wider Willen – das jedenfalls gilt für die abweisende Abby (Daniela Ziegler), die bislang noch jede Einquartiete vergrault hat und die Aussicht lieber allein genießt. Was sie auch recht unverblümt zu verstehen gibt: „Ich schätze Ihre Anwesenheit nicht!“ – „Kein Problem“, kommt postwendend die unbekümmerte Antwort, „Ihr Charakter stört mich nicht!“ Die vergnügte Marilyn (Simone Rethel-Heesters) fühlt sich trotz aller Anfeindungen wohl mit der ihr zugeteilten Kratzbürste. Sie ist weit Schlimmeres gewohnt und hätte nur ganz gern das Bett am Fenster.

"Die Reissleine": Rentner-Zicken liefern sich Schlagabtausch

Die Golden Girls gehen also eine Wette ein: Wer es zuerst schafft, die andere entgegen ihrem Charakter wütend (Marilyn) oder ängstlich (Abby) zu machen, darf bleiben. Allein und mit Panoramablick.

Die etwas mutlose Sperrholzbühne von Mascha Deneke ignoriert den eigentlichen Vorhang und bemüht stattdessen eine halbhohe Gardine als Sichtschutz. Auf und zu und zu und auf sirrt der Stoff, auch eine Art Reissleine in Bühnenbreite, die bei Umbauten im Dauereinsatz ist. Dem Spielfluss tut das nicht immer so gut.

Hamburger Kammerspiele: Queen of Gehässigkeit trifft auf guten Geist

Aber Frauke Thieleckes weitgehend muntere Inszenierung ist ohnehin ganz auf die beiden exzentrischen Rentnerinnen zugeschnitten. Die schenken sich nichts in ihrem Bemühen, die Kontrahentin möglichst übel zu treffen: Präsentiert die eine stolz eine Feuerwehr-Zeichnung des Enkels, erkennt die andere darin einen „Genitalabstrich“. Zum Dank wird Abby betäubt, ins Flugzeug entführt und zum Tandemsprung überrumpelt. „Mensch ärgere dich (nicht)“ für Fortgeschrittene.

Daniela Ziegler, die mit einer graugewellten Kurzhaarperücke auch äußerlich eine bemerkenswerte Typveränderung hinlegt, ist dabei wirklich die Queen of Gehässigkeit. Eine Beleidigung wie „Abgehangenes Fleisch“ für ältere Damen nimmt sie souverän hin. Denn austeilen kann sie selbst unübertroffen. Und routiniert. Es ist wirklich ein großes Vergnügen, ihr beim gepflegten Maulen, Mäkeln und Piesacken zuzuschauen. Darunter leiden muss auch der hilfsbereite Pfleger Scotty, den man sich – so fidel und resilient wie ihn Volker Zack hier spielt – als guten Geist in jedem Seniorenheim wünschte.

"Die Reissleine": „Wie eine schlechte S/M-Geschichte“

Die leicht ätherische, auch im Alter noch mädchenhaft wirkende Simone Rethel-Heesters bringt in Leo-Print und mit unverwüstlich guter Laune Schwung in die Bude. Subtil ist der Schlagabtausch der beiden Witwen selten: „Wie eine schlechte S/M-Geschichte“, urteilt der zunächst in die Wette involvierte, aber zunehmend fassungslose Familienanhang.

Valerija Laubach macht ihre Sache als Marilyns Tochter und in zwei weiteren Kurzauftritten einwandfrei. Unter den Nebenfiguren aber fällt besonders Georg Münzel auf, der aus wenigen Sätzen noch das Maximale herauszuholen weiß. Timing können alle, auch wenn das Tempo bisweilen noch eine Umdrehung mehr vertrüge. Schön ist, wie genüsslich alle Beteiligten dick auftragen, um dann im richtigen Moment auch leise Töne pointiert zu treffen.

„Die Reissleine“ ist makaber, lustig, aber geht auch ans Herz. Unter ihrem ruppigen Charme sehnt sich nämlich auch die widerborstige Abby eigentlich nur nach Gesellschaft, einem Enkelkind und dem Geschmack ihrer eigenen Kindheit.

Gut möglich übrigens, dass es den einen oder die andere aus dem Publikum beim Nachhausekommen nach süßem, ofenwarmem Pfirsich-Crumble verlangt.

„Die Reißleine“ bis 7.5., Hamburger Kammerspiele, Hartungstraße 9-11, Karten unter www.hamburger-kammerspiele.de