Hamburg. Der eigenwillige Theaterabend „Protec/Attac“ im Deutschen Schauspielhaus verlangt die exzessive Teilnahmslosigkeit der Hamburger.
Nichts tun. Jung sterben. Die Welt beenden. Das Credo, das sich durch diesen Theaterabend des New Yorker Regie-Duos Julia Mounsey und Peter Mills Weiss zieht, ist kein besonders erquickliches. Dabei hatte doch alles so spielerisch begonnen, fast ein bisschen albern sogar: „Weiß von Ihnen jemand, wie man zählt?“ fragt Lars Rudolph zum Beginn der Uraufführung von „Protec/Attac“ im Malersaal des Schauspielhauses und blickt freundlich ins Publikum, wo sich sogleich brav die Hände heben.
Alle hier können zählen, na, das ist doch beruhigend. Beweisen müssen es die Zuschauerinnen und Zuschauer zunächst nicht, das Zählen übernehmen die beiden Schauspieler: „Wir wärmen uns gern vor den Vorstellungen auf – und das tun wir am liebsten vor Publikum“, erklärt Rudolph und lächelt. Harmlos. Oder?
Theaterkritik: Malersaal-Bühne künstlich verkleinert
Hat es also noch gar nicht begonnen, ist das nur die Vorbereitung? Ein Tisch, zwei Mikrofone, zwei Bildschirme, zwei Akteure. Lars Rudolph und Julia Wieninger, die sich bei ihren richtigen Vornamen nennen. Sind das schon Rollen oder noch Ensemblemitglieder? Die Malersaal-Bühne ist erdrückend nach vorn verengt, Betonelemente verkleinern den Raum (Ausstattung und Licht: Kate McGee) und verstärken den düsteren, trostlosen Effekt.
Eine Interviewsituation, ein Verhör womöglich oder ein intimes Therapie-Gespräch? Die Umstände bleiben vage, das Spiel reduziert, vermutlich würde es auch als Hörspiel funktionieren. Lars Rudolph fragt, Julia Wieninger antwortet. Bereitwillig. Selbstentblößend. Sie ist eine Aussteigerin – aus dem Leben, wie es als „normal“ gilt. Eine Existenz im selbstgewählten Lockdown. Keine menschlichen Kontakte mehr, keine Körperhygiene, keine sinnvolle Ernährung.
Keine Depression sondern eine Entscheidung
Nur Pizza, Scheiblettenkäse, ungetoastetes Brot und Instantkaffee. Fernsehen und Handyspiele. Weicher Stuhlgang. Ihre Wohnung verlässt diese Person nicht, was sie braucht, wird geliefert. Für Appelle der Verwandtschaft ist sie, die Hoffnungslosigkeit als einen „Zustand der Gnade“ versteht, nicht mehr empfänglich.
Eine Depression sei das trotzdem nicht, erklärt sie, sondern vielmehr eine Entscheidung: Nichts tun. Jung sterben. Die Welt beenden. So absurd dieses nihilistische Dasein erscheinen mag – nach zwei Pandemie-Jahren schleicht sich beim Betrachten hie und da ein kleines Déja-vu ein. Julia Mounsey (die als Autorin von Julia Wieninger später auch direkt zitiert wird) und Peter Mills Weiss, die hier zum ersten Mal gemeinsam in Deutschland arbeiten, treiben die Vereinzelung und Vereinsamung auf die Spitze, indem sie die Machtverhältnisse umkehren.
„Do nothing, die young, end the world“
Die Frau ist ihrem Schicksal gar nicht ausgeliefert, das Elend und die Ödnis sind bewusst gesucht. Ein Streik gegen das Leben, freiwillige Monotonie gegen die Monotonie da draußen.Und es soll auch kein Einzelfall bleiben: Diese vermeintlich lethargische Julia, die übrigens auch davon zu berichten weiß, wer ihr am Sterbebett die Hand hielt, hat, wie sich herausstellt, ein Sendungsbewusstsein.
Sie ist nur der Anfang einer apokalyptischen Bewegung, der sich auch ihr eigentlich so lebenszugewandter Krankenpfleger angeschlossen hat – und wir, das Publikum, sollen die nächsten sein. „Do nothing, die young, end the world“ ist hier nicht nur eine Zustandsbeschreibung oder eine Gesellschaftsdiagnose, sondern eine Aufforderung. Ein Angebot der Antriebslosigkeit. „Wir würden nicht protestieren, wir würden einfach nur verdammt noch mal aufhören. Mit allem.“ Nichts tun. Jung sterben. Die Welt einfach enden lassen.
Theaterabend wird zum manipulativen Experiment
Wobei das Nichtstun erst später beginnen kann, nach diesem Theaterabend, der sich im Grunde selbst weigert, einer zu sein, und sich innerhalb einer übersichtlichen Stunde immer mehr zum manipulativen Experiment entwickelt. Mitmachen ist angesagt. Einerseits. Denn andererseits ist ja gerade das Gegenteil das Ziel: Exzessive Teilnahmslosigkeit. Auf den Bildschirmen erscheinen blaue und rote Bälle, deren Bewegungen die Zuschauerinnen und Zuschauer nach entsprechender Aufforderung vorbildlich mit ihren Zeigefingern folgen. Äpfel, die kollektives Einatmen verlangen, und Bananen, bei denen bitte gar nichts passieren darf.
Sich selbst abklatschen, „High Five“. Klappt alles hervorragend. Ist aber auch ein wenig läppisch. Begleitet wird es von den zwischenzeitlich etwas fassungslosen Blicken der beiden Schauspieler. Oder ist das eine Unterstellung, eine Übertragung der eigenen Gefühlslage? Aus der Erkenntnis „Die machen das wirklich“ folgen jedenfalls zwei Fragen: Wozu sind sie, also wir, noch bereit? Aber noch mehr, angesichts des existenziell finsteren Sounds, der nicht ganz hält, was er verspricht: Ist das alles?
Theaterkritik: Publikum wird miteinbezogen
„Ja“ und „Nein“ steht auf den Bildschirmen. Julia Wieninger, beobachtet von ihrem Kollegen, adressiert das Publikum mittlerweile frontal; auf ihr Fingerschnippsen spricht es aus den Reihen vor ihr weitgehend gehorsam im Chor. Drei Level gibt es: leicht, mittel, schwierig. So richtig schwierig werden die Eskalationsstufen dann aber doch nicht. Nur etwas esoterisch: „Sie sind jetzt ganz anders als vorhin, als Sie reingekommen sind. Spüren Sie das?“ Fingerschnippsen der rechten Hand, also: Ja. „Wollen Sie die Geschichte hören, wie ich angegriffen wurde?“ Fingerschnippsen links: Nein. Auch die Souffleuse macht mit.
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„Wissen Sie, was Sie tun müssen, wenn Sie dieses Theater verlassen?“ will die Julia-Figur schließlich wissen. Insistierend. Und vermutlich wäre der korrekt eingeübte Dreiklang: Nichts, sterben, die Welt beenden. Aber das ist nicht nur eine deprimierende Perspektive. Das erscheint auch als Theater-Erkenntnis etwas zu banal.
„Protec/Attac“, Malersaal des Deutschen Schauspielhauses, wieder am 26./27./28.3., jew. 19.30 Uhr, Karten zu 25 Euro unter T. 24 87 13 oder www.schauspielhaus.de