Hamburg. Falk Richter bringt Edouard Louis’ Roman „Die Freiheit einer Frau“ mit Eva Mattes auf die Schauspielhaus-Bühne.

Es ist nicht so einfach, einem deprimierenden Milieu zu entkommen. Da kann der kleine Junge im Video noch so schnell rennen, während Bernadette La Hengst auf der Bühne in einem zart arrangierten Rock-Remix von Die Braut haut ins Auge und Smalltown Boy den Song „Lauf Los“ singt. Um die Prägungen, den Klassismus, die schwierige Identitätssuche, die Entbehrungen und Verwerfungen der prekären Existenz geht es dem französischen Autor Édouard Louis in seinem Buch „Die Freiheit einer Frau“, das im Grunde ein in Literatur verpacktes, sehr liebevolles Geschenk an seine Mutter darstellt. Der Junge, der all dem zu entkommen versucht, ist natürlich er selbst.

Regisseur Falk Richter hat den autobiografischen Stoff nun in deutschsprachiger Erstaufführung als schillerndes Familien- und Gesellschafts-Tableau auf die Bühne des Deutschen Schauspielhauses gestemmt. Richter ist einer, der aus einem schmalen 90-Seiten-Prosatext wahrlich einen großen Theaterabend zaubern kann, ohne dabei den Kern zu verwässern.

Theater Hamburg: Eva Mattes spielt reife Version der Mutter

Im von Katrin Hoffmann geschaffenen Bühnenbild läuft alles, die akkurat geschnittenen Tannenzapfbäumchen und die blauen Steine, auf den im Hintergrund sich erhebenden Triumphbogen mit der Aufschrift „Métamorphose“ zu. Im Vordergrund ist eine kämpferisch geballte Riesenhand auf einem Podest zu sehen – allerdings erhebt sie sich nicht, sondern hält erbarmungslos nieder.

Im Text sind es „Gesellschaft, Männerwelt, mein Vater“, die das Glück der Mutter niederwalzen. Josefine Israel und Eva Mattes spielen die jüngere und reifere Version der Mutter Monique Belle­gueule. Israel zeigt in ihrem Arbeitskittel, das Gesicht verhärmt unter fahlen Strähnen, alle Zeichen einer prekären Existenz. Zu früh den falschen Kerl geehelicht und erste Kinder bekommen, die Ausbildung abgebrochen, den Kerl verlassen für einen, von dem sie dachte, er sei anders, um doch in der gleichen Spirale aus bald fünf Kindern, Erniedrigung, Alkoholismus, Gewalt und Verachtung zu landen. Grandios spielt Israel das, dauerrauchend, mit aufbegehrendem Blick – ihre Ausbruchsversuche werden von Christoph Jöde, der ihre mackerhaft dumpfen Verlierer-Männer spielt, eiskalt abgebügelt.

Familienszenen groß auf Leinwand projiziert

Richter verlegt die Familienszenen auf eine Nebenbühne mit Kitchen-Sink-Realismus und lässt sie groß auf eine Leinwand projizieren. Aber auch jetzt nimmt er seine Figuren ernst, vermeidet jeden Voyeurismus. Wenn dann Israel mit Schmetterlingsflügeln im Glitzerkleid – die Kostüme stammen von Andy Besuch – aus dem Bühnenhimmel schwebt und dabei den Scorpions-Song „Send Me An Angel“ singt, ist der Abend fast schon beim Musical angekommen.

Ins Zentrum spielt sich wieder einmal mit enormer Präsenz: Paul Behren. Glaubhaft transportiert er die Wut auf die abgehängten Verhältnisse, auch die daraus resultierende Scham und den Selbsthass, der ihn lange mit seiner homosexuellen Identität hadern ließ und zum Opfer homophober Angriffe in der Provinz machte. Noch vor seiner Mutter wird er selbst sich emanzipieren und über die höhere Schulbildung zum Literatur-Star und in Talkshows gefragten Klassismus-Experten avancieren.

Ästhetische Perfektion trifft auf scharfkantigen Rock

Wenn dann die Ausnahme-Tänzer- und Spieler-Persönlichkeit Behren im Zebra-Blazer auf Stöckelschuhen wütend „Gimme Gimme Gimme More“ ins Mikrofon brüllt, ist das mehr als nur ein großer Showmoment. Auch zwischen Mutter und Sohn gärt es. Der Ehrgeiz und Erfolg des Sohnes schafft neue Distanziertheit. „Du hast schon wieder so viel geredet, Édouard. Du musst kürzere Sätze bilden“, kritisiert die Mutter einen Talkshow-Auftritt.

Bei aller ästhetischen Perfektion schafft es der Theaterabend tief zu berühren. Dialoge und Spielszenen wechseln mit scharfkantigen Rockeinlagen von Bernadette La Hengst und ihrer famos aufspielenden dreiköpfigen Frauenband. Nur einmal entgleitet Richter ins Klischee, wenn er den jungen Erfolgsautor mit Liebhaber im dekadenten Hotelbett zeigt. Irgendwann schafft es auch Eva Mattes als Mutter nach Paris.

„Die Freiheit einer Frau“: Klassen bleiben unter sich

Dafür, dass es nicht so leicht ist, die Klasse hinter sich zu lassen, steht Moniques von Eva Maria Nikolaus gespielte Kurzzeitfreundin Angélique. Selbst von Depressionen geplagt, gibt sie der verkümmerten, in Haushalt und Kälte erstarrten Frau kurzzeitig Farbe und Freude, bis auch sie die Verhältnisse und die Ohrfeigen von Moniques Sohn nicht mehr erträgt. Die Klassen bleiben unter sich.

Édouard Louis, an Soziologen wie Bourdieu und Eribon geschult, schleift seine sehr persönliche Geschichte gleichwohl an der neomarxistischen Theorie von der Gewalt der herrschenden gegen die unterdrückte Arbeiterklasse. Es bleibt ein Wermutstropfen, wenn Eva Mattes schließlich als erblühter Schmetterling, den Männern und der Gewalt entkommen, im Pariser Nobelrestaurant Gänseleber bestellt und sogar Catherine Deneuve auf eine Zigarettenlänge trifft (durch kunstvollen Videoschnitt mit alten Deneuve-Filmszenen).

Theater Hamburg: Eine Frage bleibt offen

Letztlich sucht auch Monique keine Veränderung der Verhältnisse, sondern bürgerliches Wohlergehen. Aber wer wollte es ihr verdenken? „Ist eine Veränderung immer noch eine Veränderung, wenn sie in einem gewissen Maße von der Gewalt der Klassenordnung eingeschränkt wird?“, fragt Paul Behren’s Édouard. Diese Frage bleibt auch am Ende dieses sehenswerten Theaterabends offen.

„Die Freiheit einer Frau“ weitere Vorstellungen 8.3., 19.30, 19.3., 19.30, 6.4., 20.00, 16.4., 19.30, Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de