Hamburg. Die Premiere des Georgien-Stücks verweist erschütternd auf die Gegenwart. Fritzi Haberlandt ist als Gast zurück am Thalia.

Je genauer man schaut, desto unschärfer wird das Gesamtbild. Schwarzweiß-Fotografien und Videosequenzen flimmern über riesige Pixel-Wände, die Flächen verschieben und drehen sich, die Bildelemente verschwimmen vor den Augen, nichts ist greifbar, kein Raum endgültig. Man sucht instinktiv nach Halt, Vollständigkeit, Klarheit – und scheitert doch an der Uneindeutigkeit. Je verzweifelter das Bemühen ist, Details aus den vielen bunten Pixelkästchen zu erfassen, Zusammenhänge im kleinteiligen Raster festzuhalten, umso mehr scheint sich alles aufzulösen.

Die Bühne, die Florian Lösche für Jette Steckels aktuelle Uraufführung am Thalia Theater gebaut hat, ist eine geradezu brillante Übersetzung für den hier verhandelten Stoff – die Projektionsfläche für eine atemlose Rückschau auf das Georgien der 1990er-Jahre.

Thalia Theater: Premiere „Für Frieden und Freiheit!“

„Das mangelnde Licht“ heißt die Inszenierung nach dem punktgenau zur Premiere erschienenen neuen Roman der deutsch-georgischen Schriftstellerin Nino Haratischwili, die sich seit ihrem opulenten Jahrhundert-Epos „Das achte Leben (Für Brilka)“ der unendlich komplexen Geschichte des Kaukasus verschrieben hat.

Und sich diesmal, gewohnt schonungslos und auf 830 Seiten, dem sich neu ordnenden Land ihrer eigenen Kindheit zuwendet. Einer in jeder Hinsicht radikalen Zeit des postsowjetischen Aufbruchs (1991 erklärte Georgien seine Unabhängigkeit), der aufflackernden, immer wieder enttäuschten Hoffnung, der Anarchie und ausufernden Gewalt.

„Das mangelnde Licht“ beginnt historisch in etwa, wo „Brilka“ endete (tatsächlich hilft die Kenntnis des einen bei der Einordnung des anderen). Haratischwili zoomt mitten in das zunächst unbeschwerte Leben von vier Schulfreundinnen und ihres schon bald unheilvoll verschränkten familiären und nachbarschaftlichen Kosmos in Georgiens Hauptstadt Tbilissi.

Tür an Tür wohnen mit kriminellen Clans

Das Private spiegelt das Politische: Auf Identitätssuche sind hier einerseits ein junger Staat und eine ganze Gesellschaft, aber eben auch ein paar Heranwachsende, die ungestüm Grenzen testen, die Liebe ausprobieren und sich die Zukunft ausmalen. Das Personal ist umfangreich, das Beziehungsgeflecht facettenreich und in der Stückfassung durch Mehrfachbesetzungen einiger Schauspieler und Schauspielerinnen nicht immer einfach zu durchschauen.

Qeto Kipiani (die Lisa Hagmeister nach einem Probenunfall mit Knieorthese spielt) lebt mit ihrem Bruder Rati, dem überforderten Vater (Julian Greis) und zwei sich hinreißend kabbelnden Großmüttern (Karin Neuhäuser und Barbara Nüsse) im selben Hof wie ihre Freundinnen Dina, Ira und Nene, in einem „Viertel, das die ganze Welt ersetzt“. Tür an Tür mit rivalisierenden kriminellen Clans, Männern, die sich im politischen Machtvakuum jener Jahre ihre Identitäten direkt aus dem Actionkino leihen. Ole Lagerpusch, Sebastian Zimmler und Jirka Zett spielen sich sensationell durch die gesamte Klaviatur mackerhaft fragiler Männlichkeit.

Zu Gast: Fritzi Haberlandt kehrt mit eckigem Charme zurück

„Dass wir überhaupt überlebt haben, ist den Frauen zu verdanken“, wird der georgische Videokünstler Zaza Rusadze, der in Steckels Inszenierung wie schon in „Brilka“ für das projizierte Original-Material verantwortlich ist, im Programmheft zitiert. Tatsächlich hat Nino Haratischwili archetypische Frauenfiguren geschaffen, ohne moralisch über sie zu urteilen. Nicht über die rebellisch-selbstbewusste Dina, die den Männern so furchtlos wie rastlos begegnet und als Fotografin in den Abchasien-Krieg zieht (erneut herausragend: Maja Schöne).

Nicht über Nene, die Mafia-Nichte, die den archaisch-patriarchalen Strukturen ihres Clans wie eine menschliche Ware ausgeliefert ist und sich ihnen doch auf ihre Art anzupassen weiß (betörend: Rosa Thormeyer). Auch nicht über die kopfgesteuerte Ira, die schließlich mit der Loyalität zur eigenen Herkunft bricht. Eine Rolle, für die Fritzi Haberlandt mit Unerbittlichkeit und doch vertraut eckigem Charme als Gast an ihre einstige Bühnenheimat zurückkehrt.

„Das mangelnde Licht“ nicht nur sehen, sondern auch lesen

Es sind extreme, ambivalente Charaktere, die Haratischwili zeichnet. Jette Steckel weiß sie genau und klug zu übersetzen, was den Figuren – nicht nur im Roman, sondern auch in der Spielweise der vier kongenial besetzten Darstellerinnen im Zentrum – eine enorme Tiefe und Souveränität verleiht, vor allem im Verlauf der zweiten Vorstellungshälfte.

Jahre später treffen sich drei der Frauen auf einer Vernissage in Brüssel – die vierte, deren hier präsentierte Fotokunst das gemeinsame Aufwachsen brutal spiegelt, hat nicht überlebt. Die Retrospektive hat also mehrere Ebenen, wobei das Umschalten zwischen Gegenwart und Vergangenheit und damit die Frage nach der Konsequenz allen Handelns, zum anderen der interessante Aspekt des Voyeuristischen durch ein routiniert betroffenes Publikum den Haratischwili-Roman sehr viel konstanter prägt als die Inszenierung. Jette Steckel konzentriert sich auf die Coming-of-Age-Geschichte – was in sich absolut funktioniert (und dafür sorgt, dass es bei knapp viereinhalb durchweg spannenden Stunden bleibt), den Roman aber dennoch einer Dimension beraubt. Es lohnt sich unbedingt, „Das mangelnde Licht“ nicht nur zu sehen, sondern auch zu lesen.

Premiere im Thalia Theater: Nichts für schwache Nerven

Eine Intensität, die bei Probenbeginn nicht vorherzusehen war und den Thalia-Intendanten dazu verleitete, vorab zu erklären, alles Gezeigte sei „Original-Haratischwili“ und keinesfalls künstlich aktualisiert, ist die erschütternde Verbindung zum Kriegsgeschehen in der Ukraine. Da ist die Neujahrsansprache von Gorbatschow (an den man sich in Georgien zwiespältig erinnert), in der er „hoffnungsvoll in die Zukunft“ blickt, rollende Panzer, Flüchtende. Man ahnt Leichen hinter den bunten Pixeln, hört Schüsse, erträgt die allgegenwärtige Gewalt und Ohnmacht. Für schwache Nerven ist dieser Abend nichts.

Nach der Premiere entrollte das Thalia-Ensemble ein Banner.
Nach der Premiere entrollte das Thalia-Ensemble ein Banner. © Maike Schiller

In den heftigen Premierenschlussapplaus hinein trägt das Ensemble ein Banner auf die Bühne: „Für Frieden und Freiheit!“ steht darauf. Das Publikum erhebt sich geschlossen. Und hilflos.

„Das mangelnde Licht“ Thalia Theater, wieder am 1. März, 19.30 Uhr, 18.3., 20 Uhr, und 20.3., 17 Uhr; Karten unter T. 328 14-444, www.thalia-theater.de