Hamburg. Der Pianist stellte Stevensons „Passacaglia on DSCH“ vor und begann sein Konzert in der Elbphilharmonie mit der ukrainischen Hymne.

Es war Dienstag, es ist Krieg in Europa ausgebrochen, und es wird weiter Musik gespielt, auch im Großen Saal der Elbphilharmonie. Nicht immer ganz einfach, das undenkbar Gewesene und das für normal Gehaltene zusammenzubekommen. Am Abend dieses Kriegs-Tages hatte eine berühmte russische Sopranistin sich von der Bühne verabschiedet. Ein berühmter russischer Dirigent wurde europaweit gleichzeitig aus diversen Prestige-Posten verabschiedet. Einen Abend später hätte das genau gleiche Rampenlicht in diesem Saal die Sängerin zum Strahlen gebracht und als makellose Opern-Diva inszeniert.

Ziemlich klar also, dass es kein Dienstag sein konnte, an dessen Abend Igor Levit einfach nur so zum Klavier gehen und wie bestellt viele Noten ordnungsgemäß, aber ansonsten stumm abliefern würde. „Dieses Konzert ist allen Menschen in der Ukraine gewidmet, und auch allen in Russland und sonst wo, die Putins Krieg ablehnen und Tag für Tag protestieren“, sagte er, bevor er die ukrai­nische Nationalhymne ankündigte und sie spielte.

Elbphilharmonie: Igor Levit widmet Konzert Menschen in der Ukraine

Das Publikum hatte sich dazu von seinen Sitzen erhoben. Kein flammender verbaler Appell, wie 2016, als er sich vor Rzewskis Variationszyklus „The People United Will Never Be Defeated“ zum Thema Kunst und Freiheit zu Wort gemeldet hatte, diesmal nicht, aber dennoch: eine klare Kante. Das, was Künstler mit ihrer Kunst tun können, wenn sie können und wollen.

Nur ein einziges Schau-Stück stand auf dem Programm, ein gut 90-minütiger, bravourös durchgehaltener Kraftakt, gewollter Überforderungsmarathon. Achterbahnfahrt ohne Sicherheitsgurt, im Repertoire des 20. Jahrhunderts eine ziemlich einmalige pianistische Selbststrapaze. Eine „Symphonie fana­tique“, in der jeder Pianist sich mit zwei Händen und einem wachen Geist durchzuarbeiten hat. Aber auch ein Schöpfungsakt, Zangengeburt in jenen Episoden, in denen diese Musik sich wehrt, gemocht zu werden, in denen sie nicht schön oder sympathisch sein soll, aber ehrlich.

Levit quält sich über einen kräftezehrend langen Zeitraum

Ronald Stevensons „Passacaglia on DSCH“, seit der Premiere 1963 so gut wie nie zu hören gewesen, bevor Levit ihr zu verdienter Bekanntheit verhalf, ist nicht weniger als die mitunter autistische Errichtung einer eigenen Welt aus jenen vier Tönen, mit denen Dmitri Schostakowitsch sich in viele seiner eigenen Werke hineinsignierte, wie Bach mit dem gottesfürchtigen Monogramm B-A-C-H. Und damit für Levit ein Bekenntniswerk, um Grenzen aller Art aufzuzeigen und deren Überwindung fordernd auszureizen. Wieder einmal, wie bei seiner vielfach längeren Aktion mit Saties „Ve­xations“ quälte sich Levit. Sehr. Und über einen kräftezehrend langen Zeitraum.

Im vergangenen Oktober hatte Levit in der Laeiszhalle das komplementäre Gegen-Teil zu diesem Biest von Stück gestemmt, Schostakowitschs „Präludien und Fugen“-Zyklus op. 87, dessen Verbeugung vor Bachs Formbewusstsein. Die formalen Anforderungen waren nun ganz andere, der Furor jedoch war ähnlich. Und hin und wieder (und gar nicht so selten) langte, oder eher: holzte Levit auch mal beherzt knapp daneben. Risiko, kann passieren, nicht so wichtig wie der Mut, nicht gekniffen zu haben.

Levit entlockt dem Flügel monströse Töne

Levit verstand das Stück an sich als die Kunst, nicht den erbsenzählerischen Umgang mit seinen jeweiligen Bauteilen. Vieles wuchert, wächst und wabert bei Stevenson vor sich hin, nach der nächsten Kurve und einer weiteren Gedankenstruktur suchend, doch Levit hielt dem Druck immer mit Gegendruck stand. Grimmig bis genüsslich waren dabei seine entsprechenden Gesichtsausdrücke. Schön zu spielen, um schön zu spielen, reicht ihm offenkundig nicht mehr als Bühnendaseinsberechtigungs-Grund.

Mittendrin gab es Passagen, in denen Levit dem heißgespielten Steinway mit der Linken in die entzündeten Innereien zu greifen hatte, um dort monströs unflügelige Töne aus den Saiten herauszuzerren, die dann klangen, als würde man Godzilla im falschen Moment wecken. Aber auch transzendental Weggetretenes, so sonderbar vergrübelt und tonartenlosgelöst wie sehr später Liszt, in dem Levit auch dieser Weltverlorenheit Raum zum Ausbreiten gab. Er wollte und organisierte mit packendem Zugriff, dass diese Musik, mit so ziemlich allen denkbaren spieltechnischen Gemeinheiten gespickt, den Boden unter ihren Füßen verließ.

Eine ziemlich einmalige pianistische Selbststrapaze

Andere Etappen erinnerten, aller genauen Notiertheit des Notentextes zum Trotz, an die Vulkanausbruch-Konzerte, in denen der Free-Jazz-Gigant Cecil Taylor in der Altonaer Fabrik liebevoll mindestens drei Sorten Ekstase beidhändig aus dem Klavier herausprügeln konnte.

Ohne Geduld, Ausdauer, Kondition und trotzigem Respekt käme man bei diesen Anstrengungen nicht weit. Manche Bögen in Stevensons Epos haben die Proportionen eines ausgewachsenen Bruckner-Sinfoniesatzes, obwohl sie nicht deren zeitliche Länge haben. Erstaunlich und bewundernswert, wie groß die Klangfarbenvielfalt war, die Levit aufbot, meistens weitab vom sinnlichen Wohlklang. Es durfte gern dröhnen, hohl und fahl funzeln, oder eben auch brachial donnern. Der Flügel sollte auch Orchester-Ersatz sein können.

Ab dem rumpelnden Einzug des archaischen „Dies irae“-Themas im Bass, quer durch die Musikgeschichte als Soundtrack zum ersten Verhandlungstag des Jüngsten Gerichts immer wieder herbeizitiert, kniete sich Levit im nahenden Schlussteil noch einmal und noch tiefer und eindringlicher ins Material. Wie findet man aus einem solchen Stück wieder heraus, zurück in die Wirklichkeit? Levits Ausweg war das Verklingenlassen der letzten Momente. Nachdem der gesamte Saal schon während des Konzerts konzentriert und röchellos zugehört hatte, endete diese Demonstration mit langer, vielsagender Stille.

Aufnahme: „On DSCH“ Werke von Schostakowitsch und Stevenson (Sony Classical, 3 CDs, ca. 25 Euro, Vinyl ca. 35 Euro). Nächste Levit-Konzerte: 21.4. mit dem Mahler Chamber Orchestra: Werke von Strawinsky, Bolcom, Cop­land. 23.3. mit dem Orchestre de Paris: Werke von Ravel, Gershwin und Bartók. Weitere Informationen: www.elbphilharmonie.de