Hamburg. Beeindruckender Abend: Zum Eröffnungskonzert des US-Festivals im Großen Saal wurden Werke von Copland, Barber und Korngold gespielt.

Wer sind wir? Wie werden wir miteinander und nicht gegeneinander glücklich? Wie bleiben wir es? Nicht nur als Individuum, auch als Nation, die ihre historische Bedeutung auch über moralische Ansprüche definiert. Riesige, grundsätzliche, nicht an eine Geburtsurkunde gebundene Fragen, mit denen der US-Amerikaner Alan Gilbert vor Beginn seines Heimspiel-Konzerts einige Nachdenk-Anregungen gab, bevor er Musik präsentieren konnte, die ihm, dem gebürtigen New Yorker so herzensnah ist. Und auf dieser Seite des Atlantiks zu unbekannt.

Für die Eröffnung seines US-Konzertschwerpunkts „The Age of Anxiety“ am Freitag hatte Gilbert ausschließlich Kompositionen zusammengestellt, die zwischen Mitte der 1930er- und Mitte der 1940er-Jahre geschrieben wurden. Zeitstücke, persönliche Bekenntnis-Musik, die, jede auf ihre Art, mit den damaligen Krisen, Hoffnungen, und Möglichkeiten umging. Werke übrigens auch, die viel melodischer und eingängiger sind, als es ihre jeweiligen Entstehungsjahre vermuten oder von manchen: befürchten ließen.

Elbphilharmonie: Ein in jeder Hinsicht beeindruckender Abend

An seinen Rändern geklammert wurde dieser in jeder Hinsicht beeindruckende Abend im Großen Saal der Elbphilharmonie durch zwei Hauptwerke des „dean of american music“, Aaron Copland. Der hatte mit seinem „Lincoln Portrait“ 1942, also kurz nach dem nationalen Trauma Pearl Harbor, ein Denkmal für Abraham Lincoln nicht in Stein, sondern auf Notenpapier gemeißelt, eine noble Ausstellungsvitrine, ehrfürchtig beleuchtet, für Brief- und Rede-Passagen dieses visionären Präsidenten.

Gregory Peck, Tom Hanks, Barack Obama, Henry Fonda, Neil Armstrong, Bill Clinton, ja sogar – warum auch immer – die Britin Margaret Thatcher haben im Laufe der Jahrzehnte bereits den Sprechpart übernommen, um so Größe und Nationalstolz, Demut vor dem Schicksal, Führungswillen und politische Aufrichtigkeit zu proklamieren und einzufordern.

Musik, die auf dieser Seite des Atlantiks zu unbekannt ist

Hier war es der Bassist Morris Robbinson, dessen satt sonore Rezitation leider nur ein halber Ersatz dafür war, ihn mit dieser Stimme nicht auch singen zu hören. Vor allem aber war dieser Auftakt ein guter erster Beleg dafür, wie eins Dirigent und Orchester mit diesem Repertoire werden wollten. Dass es keine nachdrückende Überzeugungsarbeit vom Chefpult benötigte, sich jenseits von Brahms, Bruckner, Beethoven & Co. mit der doch eher ungewohnten Tonsprache zu arrangieren.

Als Zwischenspiel zwischen den zwei größeren Portionen hatte sich Gilbert für Samuel Barbers ersten „Essay for Orchestra“ entschieden. Neoromantisch, nostalgisch, gestrig und zutiefst glücklich damit, weit von der damaligen Avantgarde- entfernt zu sein. Geschmackvolles, wohltemperiertes Grübeln über Klangschönheiten und die inneren Werte von melodischen Ideen. Kein Stück für Liebe aufs erste Hören, das Gilbert mit großem Respekt durchmaß. Kunst-Handwerk, wie vieles vom fast gleichaltrigen Benjamin Britten.

Hollywood und ein elegant auftrumpfendes Orchester

Nach der Pause betrat man den ur-amerikanischen Sektor, denn die Traumfabrik wurde eröffnet: Hollywood, Show-Treppe, Zauberei und Entertainment. Das D-Dur-Violinkonzert des Exilanten Erich Wolfgang Korngold, vom Filmmusik-Star auch als ein Rückfahrschein ins Rampenlicht Europas gedacht, bekam völlig zu Recht nach jedem Satz einen Zwischen-Applaus. Einerseits, weil es so brutal schwer zu zähmen ist, andererseits, weil es dabei so eingängig ist, so mitreißend wie ein alter Technicolor-Historienschinken mit Degenkämpfen und verzweifelten Schönheiten. Das tollkühnste, raffinierteste Violinkonzert, das Korngolds Enkel im Geiste John Williams noch nicht geschrieben hat.

Dafür ausgerechnet Leonidas Kavakos zu holen, der eher als zurückgenommener Denker gilt und weniger als atemraubender Rampen-Virtuose, der es gar nicht abwarten kann, mit seinem Können um sich zu werfen? Interessante Wahl. So schien es dem Griechen zunächst selbst auch vorzukommen, doch nach dem ersten Satz machte er sich lockerer und genoss von Phrase zu Phrase mehr, sich gemeinsam mit dem elegant auftrumpfenden Orchester den großen Spaß dieses Drahtseilakts zu gönnen.

Hollywood, Show-Treppe, Zauberei und Entertainment

Problemchen, allerdings auf hohem Niveau, verursachte einzig die Umsetzung von Coplands Symphony No. 3, die seit ihrer Premiere 1946 schnell zu DER großen amerikanischen Nachkriegs-Sinfonie wurde. Episch und euphorisch sind ihre Ausmaße, wie eine Bruckner-Sinfonie unter freiem Himmel statt in einer mächtigen, aber dunklen Kathedrale sollte diese Musik gespielt werden. Die Ausgewogenheit der Bausteine, die Balance zwischen sanften Bläserfarben und durchsichtigen Streicher-Erzählungen ist entscheidend. Gilbert fand und hatte diesen langen Atem.

Schwierig ist es ebenfalls, eine Balance zwischen Ausdrucksglut und Sachlichkeit zu finden und zu halten. Doch auch hier war Gilbert bestens im Klang-Bild. Er ließ die einfachen, klaren Intervalle und Klangschattierungen aufleuchten und verzweifelte auch nicht an den vielen rhythmischen Gemeinheiten. So gut wie ständig, aber nicht immer hatte das stark geforderte NDR-Blech bei aller Nervenstärke und Treffsicherheit die selbstverständliche Leichtigkeit parat, mit der US-Orchester diese Aufgaben cool und brillant meistern. Doch das waren Schönheitsfehlerchen, kein Drama.

Die Verehrung des kleinen, gegen alle Widerstände tapferen Jedermanns, die Feier jedes Einzeln, frei von Zweifeln und voller Optimismus: All das hatte Copland mit seinem Selbstzitat der „Fanfare for the Common Man“ in den Schlusssatz hineingelegt. Höherdosierten „American Dream“ als in diesem Finale mit sehr lauten Pauken und Trompeten, Hörnern, Posaunen und Tuba wird man so schnell wohl nicht finden. Und genau das holte Gilbert dort mit bravouröser Überzeugungskraft heraus.

Festival-Infos: Das Konzert wird am Sonnabend um 20 Uhr wiederholt und als Livestream in der Mediathek der Elbphilharmonie übertragen: www.elbphilharmonie.de, alle Konzertstreams unter www.ndr.de/eo. Aufnahmen: Korngold: Violinkonzert op. 35. Anne-Sophie Mutter, LSO, André Previn (DG, CD ca. 18 Euro). Copland „Symphony No. 3“ / „Quiet City“ Leonard Bernstein, NY Phil (DG, Vinyl, ca. 27 Euro). Leonidas Kavakos „Bach: Sei solo“ (Sony Classical, CD ca. 17 Euro)