Hamburg. Klangwechsel-Performance des Langzeit-Orgel-Projekts wurde live aus der Halberstadter Burchardi-Kirche in Hamburg gezeigt.

Halb so wild, ehrlich gesagt. Ein gis mehr oder weniger in einem Klein-Cluster aus Orgeltönen, der jetzt nur noch aus sechs Tönen besteht – um die Lücke zu registrieren, die der weggefallene siebente Ton hinterlässt, muss man schon sehr genau hinhören. Das Gute daran, wenn man den Unterschied nicht hört: So wichtig ist es nun auch wieder nicht. So wichtig wäre es auch John Cage garantiert nicht gewesen. Es ist doch nur ein Ton.

Cage hatte Ende der 1980er-Jahre ein Stück namens „ORGAN²/ASLSP“ ersonnen, das sich inzwischen, auf 639 Jahre Spieldauer hochgerechnet, in der Burchardi-Kirche in Halberstadt, auf die Ewigkeit hin bewegt, mal ein- und mal mehrtönig, mal stumm. Am Sonnabend, 15 Uhr genau, zog die Musikwissenschaftlerin Ute Schalz-Laurenze weißbehandschuht, als hätte sie die Kronjuwelen im Londoner Tower von da nach dort zu tragen, feierlich die Pfeife aus dem Spezial-Instrument. Dafür gab es Szenenapplaus, in Halberstadt, 200 Kilometer entfernt, und im ersten Stock der Hamburger Galerie der Gegenwart, in der „Futura“-Ausstellung über (fast) zeitlose Kunst.

Weiss half dem Cage-Projekt ins Leben

Für diesen feierlichen Moment des Cage-Klangwechsels waren die sechs Ventilatoren einer benachbarten Installation rechtzeitig abgeschaltet worden, über denen sechs Papierkugeln schwebten. Christina Weiss sollte ungestört reden können. Sie ist ehemalige Hamburger Kultursenatorin, ehemalige Kultur-Staatsministerin in Berlin und war einerseits Geburtshelferin der Galerie der Gegenwart und ihrem Längstzeitmieter, Bogomir Eckers Tropfsteinmaschine, die auf schnittige 500 Jahre Laufzeit ausgelegt ist und erst 25 rum hat. Das gute Stück versah zwei Etagen tiefer seinen Dienst an der Unplanbarkeit der Kunst.

Andererseits hatte Weiss auch dem liebenswürdig sinnfreien Cage-Projekt in Halberstadt mit Bundes-Geldern ins Leben geholfen und mit dem Universalgelehrten Alexander Kluge, der aus Halberstadt stammt, den ersten Klang ins Sein auf Zeit geschickt. Länger her, aber doch, im Angesicht von insgesamt 1139 Jahren Kunstproduktion: gerade eben erst. Und schon, nun eben, war wieder ein Klangwechsel in Halberstadt fällig.

„Gedankenmodell der Imagination von Unendlichkeit“

Der US-amerikanische Künstler und Komponist John Cage.
Der US-amerikanische Künstler und Komponist John Cage. © picture alliance / united archives | United Archives / kpa

Ohnehin war das Déjà-vu-Gefühl groß an diesem wundersamen Nachmittag: Der immer leicht verlegen-amüsierte Zwischenton in Weiss’ Reden-Rhetorik sorgte blitzschnell dafür. Dann, bereits nach wenigen Minuten, ein erstes, zwischen zwei Schal-Justierungen platziertes Karl-Popper-Zitat, über die „Unvorhersehbarkeit zukünftigen Wissens“. Weiss’ Nachfolger Carsten Brosda hat sich gerade erst im „Freitag“ als „Habermas-Ultra“ geoutet, manche Dinge ändern sich, wie Cages Töne, nur langsam.

Nach der Begrüßung durch Ex-Kunsthallen-Direktor Uwe M. Schneede begann Weiss ihre Horizont-Betrachtung über „absichtslose Prozesse“ mit dem örtlichen Jahrhunderte-Projekt. Für sie sei das Tröpfelgerät im Untergeschoss das „Gestalt gewordene Gedankenmodell der Imagination von Unendlichkeit“. Auf dieser Flughöhe konnte es einem wirklich sehr schnell sehr philosophisch zumute werden. Für Pointchen sorgte ein klassisches Weiss-Reden-Markenzeichen: ihre amüsierte, nie ganz unterdrückbare Kichern-Andeutung, als sie berichtete, wie sehr die Finanzbehörde von der Aufgabe überfordert war, ein 500-Jahre-Kunst-Projekt in die städtischen Unterlagen aufnehmen zu sollen.

Cage: Kunst hat mit Erleben zu tun

Nach einigen Minuten geschliffenen Mäanderns näherte sich Weiss den feinmechanischen Ehrengästen, passende Zitate hatte sie parat. „Ihr“ damaliger Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher hatte über Halberstadts Cage-Orgel gemeint, man solle dort „in die Langsamkeit hinein“ lauschen.

Überhaupt, „lauschen“ und „hören“… allein über diese feinen semantischen Unterschiede wäre jetzt ein weit ausholender Impulsvortrag der vergleichenden Literaturwissenschaftlerin schön gewesen. Schon um die Zeit bis zum tatsächlichen Klangwechsel noch sinnmehrender zu füllen. Kam aber nicht. Dafür ein weiteres Cage-Zitat: Wie sehr sich Menschen irren würden, wenn sie meinen, Kunst habe mit Verstehen zu tun. Denn die habe mit Erleben zu tun.

Spannung wie bei einer Außenwette von „Wetten, dass...“

Doch immer noch nicht waren wir beim Einsatz der Spezial-Orgel, deren Abbild inzwischen für das immer gespanntere Publikum auf einer Leinwand zu sehen war. Halberstadt, live, in Farbe. YouTube hatte zunächst eher bescheidene 29 Aufrufe im Zähler vermeldet.

Zu sehen war die Orgel, eingezäunt wie ein Kunstwerk, das sie ja ist; Menschen, Kameras, interessante Aufregung. Fast wie früher, bei Gottschalks „Wetten, dass...?“, wenn zur Außenwette geschaltet wurde und die Bolzplatz-Belegschaft los johlte. Doch hier sollte kein Bagger mit Bierkisten jonglieren, hier sollte es ganz leise, so langsam wie nur möglich ums ganz große Ganze gehen. Die Zeit, uns Menschen und den ganzen Rest.

Konzertkritik: Schalz-Laurenze verbeugte sich stolz

Rainer O. Neugebauer von der Halberstadter Cage-Stiftung grüßte im Video kurz und fröhlich nach Hamburg, Schalz-Laurenze zog weihevoll die Pfeife und verbeugte sich stolz. Und danach war fast alles fast so wie davor. Nur eben einen Zwischenton anders. Auch schön. Und schon am 5. Februar 2024, beim Wiederaufstocken auf sieben Orgeltöne, könnten wir alle uns wieder hören.

Cage-Orgel-Projekt: www.aslsp.org