Hamburg. Popkolumne: Glitzernde Querflöten, fusselige Gitarren und rauschhaft schöne Songs: Das sind die drei Platten der Woche.
Vor sechs Jahren stellte Ian Anderson nach der Auflösung von Jethro Tull 2012 fest: Irgendwie wäre es doch blöd, das 50. Jubiläum der Altmeister des Progressive Rock nicht zu begehen. Und so tourte er mit den Mitgliedern seiner Soloband als „Jethro Tull by Ian Anderson“ um die Welt, passend zum 1976er Albummotto „Too Old to Rock ‘n’ Roll: Too Young to Die!“.
Und offensichtlich hat der Sänger und Flötist Gefallen daran gefunden, das Erbe der 1967 in Blackpool gegründeten Band nicht nur zu bewahren: Beachtliche 23 Jahre nach dem letzten Studioalbum „J-Tull Dot Com“ erscheinen jetzt auf „The Zealot Gene“ (Inside Out) tatsächlich ein Dutzend neue Songs. Bissig, wie Anderson als Texter stets war, nimmt er offensichtlich sein biblisches Alter zum Anlass, um zahlreiche Zitate aus dem Alten und Neuen Testament aufzugreifen und zu verarbeiten, von „Jacob’s Tales“ bis zu „The Fisherman Of Ephesus“.
Eine Band aus Niedersachsen feierte wie Mötley Crüe
Die Querflöte, Synthesizer und Gitarren harmonieren mal abgehoben spacig, mal folkig-erdig wie im einleitenden Lied „Mrs Tibbets“. Aber auch in leisen, aber dramatischen Abschnitten wie „Mine Is The Mountain“ erweist sich Anderson auch als Mittsiebziger als feiner Songschreiber. Nur bei der Stimme müssen Abstriche gemacht werden, er ist mehr Erzähler als Sänger. Was aber die Geschichten auf „The Zealot Gene“ nicht uninteressanter macht.
Und noch ein Neustart, wenn auch in anderer Form: Deutsche Rockbands sind in der Regel ja eher handzahm und unskandalös, aber die niedersächsische Grunge-Band Union Youth war eine unrühmliche Ausnahme: Zwischen 2001 und 2006 zählte die Truppe um Sänger Maze Valentin auch international zu den nächsten großen Dingern, scheiterte aber an wüsten Drogenexzessen, bei denen selbst Mötley Crüe geschaudert hätte. Was bleibt, sind der 2017 erschienene Dokumentarfilm „Könige der Welt“ über diese Zeit und die im selben Jahr gegründete Nachfolgeband Pictures.
Die Eels: Gemütsspiegel von Sänger Mark Everett
Die beweist auch auf dem neuen dritten Album „It’s OK“ (erschienen beim Hamburger Label Clouds Hill) enormes Potenzial mit fantastischen Melodien, kühler Grundstimmung und schönen Arrangements zwischen Post-Punk, Alternative und Britpop irgendwo zwischen Oasis, Placebo und Blackmail. Der Titelsong „It’s OK“, „In The Morning“ und „Shivers“ sind die definitiven, grundverschiedenen Anspieltipps, die einen guten Eindruck der Bandbreite von Pictures abbilden. Mehr als okay, diese Platte.
- Tocotronic: Gut aufgestellt im Land des Ungefähren
- „Schöne Dinge“ und frische gute Musik aus Hamburg
- Neues Album von ABBA – immerhin kein Waterloo
Nicht selten ist die aktuelle Gemütslage von Eels-Chef Mark Oliver Everett an den Alben der US-amerikanischen Alternative-Rockband abzuhören. „Electro-Shock Blues“ zum Beispiel verarbeitete 1998 krasse familiäre Schicksalsschläge. Gemessen daran ist das neue Album „Extreme Witchcraft“ (E Works Records) von den Eels ein Fest der guten Laune. Vom ersten Song „Amateur Hour“ an macht jedes Lied Spaß zu hören, auch das getragen-verschlafene „So Anyway“.
Neue Erfolge hätten die Eels allemal verdient
Maximale Lässigkeit, fusselige Gitarren und zuckersüße Melodien wie in „Strawberries & Popcorn“ und souliger Groove wie in „Steam Engine“ dürften nicht nur bei den beinharten Fans der Eels ankommen. Aber ob „Extreme Witchcraft“ hierzulande an die Top-Ten-Erfolge von „The Cautionary Tales Of Mark Oliver Everett“ (2014) und „The Deconstruction“ (2018) anknüpfen kann, wird sich zeigen. Verdient hätten es die Eels allemal.