Hamburg. “Voyage“ von Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid ist zwar nur kitschiges Selbstzitat. Nostalgische Fans wird es aber befriedigen.

Meine Frau und ich kannten uns schon einige Jahre, als wir Ende der 90er-Jahre auf dem Hafengeburtstag vor der Bühne beim Auftritt einer ABBA-Coverband landeten. Und zu meinem Erstaunen (und Erschrecken) konnte meine Frau, eigentlich eine Rockerin, jeden Song mitsingen: „Dancing Queen“, „Super Trouper“, „S.O.S.“, „Thank You For The Music“, „Fernando“, alles. Wir haben trotzdem später geheiratet. ABBA wurde ja auch wieder gesellschaftsfähig. Das „Mamma Mia“-Musical, die lustigen Puppen im „The Last Video“-Clip, Madonnas Remix von „Gimme Gimme Gimme“ in ihrem Megahit „Hung Up“, das hatte alles was. Und irgendwann konnte auch ich alle ABBA-Hits mitsingen.

Dass ABBA seit 1982 Geschichte waren, fand ich nicht so schlimm wie die alle Jahre wieder auftauchenden Comeback-Gerüchte, die jede Musical-Premiere, Museumseröffnung oder Interviews mit Benny Andersson und Björn Ulvaeus begleiteten. Wie die Beatles oder - gezwungenermaßen - Led Zeppelin haben auch Agnetha Fältskog, Björn Ulvaeus, Benny Andersson und Anni-Frid Lyngstad genau in dem Moment Schluss gemacht, als der kreative Kompass anfing, nach Süden zu zeigen. Bis auf „One Of Us“ hatte das ABBA-Album „The Visitors“ 1981 nicht mehr viel zu erzählen.

ABBA kommt mit "Voyage" – und die Welt steht still

Doch als ABBA vor wenigen Monaten die Wiedervereinigung und das Comeback-Album „Voyage“ ankündigte, stand die Welt ein paar Minuten lang still. Eine Art begeisterte Schockstarre. Als wäre eines der letzten ehernen Gesetze der Pop-Physik aufgehoben worden. Die Marketingmaschine, die ABBA bereits in den 70er-Jahren perfektioniert hatte, lief auch 40 Jahre später immer noch wie geschmiert. Die ersten neuen Lieder „I Still Have Faith In You“, „Don’t Shut Me Down“ und „Just A Notion“ sowie die Ankündigung eines Konzertspektakels in London mit „ABBAtaren“ genannten Hologrammen der Vier stießen auf offenen Ohren und Herzen von Millionen Fans weltweit, die sich ein Stück ihrer Jugend zurückträumten.

Nostalgie ist ein schönes Gefühl, aber auch sehr einfach zu befriedigen. Tausende Coverbands leben davon. Die Truppe damals auf dem Hafengeburtstag war eher zweitklassig, aber auch eine drittklassige Version von „Dancing Queen“ kann man super mitsingen. Und deshalb wird auch das neue ABBA-Album „Voyage“ funktionieren. ABBAmania.

"Voyage": Zehn neue Songs sind unverkennbar ABBA

Der Erfolg, der Mythos von ABBA beruhte in den goldenen Jahren des Quartetts auf der geschickten, produktionstechnisch perfekten Kombination aus Pop („Waterloo“, „S.O.S.“), Disco („Dancing Queen“, „Voulez-Vous“) und Schlager-Folklore („Fernando“, „Chiquitita“). Und auch wenn Björn und Benny mal Mittelmaß komponierten und arrangierten, waren es die Stimmen von Agnetha und Anni-Frid, die mit ihrem Zauber Murks wie „The Name Of The Game“ in Magie verwandelten.

„Voyage“ präsentiert jetzt zehn neue Songs, und sie sind unverkennbar ABBA. Die Stimmen der beiden Engel sind auch mit mehr als 70 Jahren aus einer anderen Welt. Das Album biedert sich absolut keinem gängigen oder vergangenen Trend der vergangenen 40 Jahre an. Und schon ein Blick in Foren und Soziale Netzwerke reicht, um zu erkennen, was das auslöst. Gefühle, Gefühle, Gefühle. Eine endlose Folge aus Jugendzimmern, Stadtfesten, Hochzeiten - und Scheidungen: „The Winner Takes It All“. Aber wenn man sich von all dem trennt und „Voyage“ frei von Nostalgie hört … puh. „I don’t wanna talk about things we’ve gone through“. Man möchte nicht erzählen, was man durchmacht beim Hören dieser Platte.

ABBA: Wenig Pop, wenig Tempo, wenig Disco, viel Schlager

Zehn Songs schreiben also die ABBA-Geschichte weiter. Wenig Pop, wenig Tempo, wenig Disco und viel Schlager. Ein „Fernando“-Album. Nach dem hymnischen „I Have Faith In You“ wird fröhlich irisch geschunkelt mit „Than You Danced With Me“, bevor mit Klavier, Flöten und Weihnachtsglöckchen die „Little Things“ beschworen werden. „Don’t Shut Me Down“ erinnert gnadenlos an Björns tapsigen Tanzstil und „Just A Notion“ zelebriert den kopfwackelnden Benny-Boogie. Alles klingt sehr gefällig bis kitschig: die Abba-Eigenschaften, die seinerzeit nicht nur für Fanliebe, sondern ebenso leidenschaftlich zelebrierte Abneigung sorgten.

Die traurige Ballade „I Can Be A Woman“ erzählt von einer einsamen Frau, die auf der Couch liegend von ihrem treuen tierischen Begleiter, der ihre Hand leckt, getröstet wird. Ein Lied wie ein nasser Hund. Dagegen fällt „Keep An Eye On Dan“ nicht unangenehm auf, und zitiert am Ende die Akkorde von „S.O.S.“, während sich „Bumblebee“ die Panflöten von „Fernando“ leiht.

Aber Selbstzitate sind für eine Band wie ABBA, die wiedererkennbar wie wenige war und ist, völlig in Ordnung als Markenpflege. Kurz vor Schluss geht es mit „No Doubt About It“ in die Disco, bevor der orchestrale Choral „Ode To Freedom“ die Reise auf „Voyage“ würdig beendet.

ABBA: Ein Comeback, das niemand braucht?

Dieses Album hätte stilistisch gut hinter das zweite Album „ABBA“ (1975) und den Nachfolger „Arrival“ (1976) gepasst, hätte aber wohl für eine Karriere-Delle gesorgt. Denn Hits, die in das Repertoire von Coverbands für den nächsten Hafengeburtstag passen könnten, sind auf „Voyage“ auch mit viel Wohlwollen nicht zu finden. So erinnert dieses Comeback an Michael Jordan bei den Washington Wizards oder Michael Schumacher bei Mercedes: Die Größten der Großen kehrten noch einmal zurück, lösten maximalen Rummel aus – aber hätten es am Ende des Tages lieber lassen sollen.

Von so einer Blamage, einem Waterloo ist ABBA mit „Voyage“ weit genug entfernt, dafür trifft es zu sehr den nostalgischen Nerv der Fans und den Hang unserer Zeit zum schuldigen Vergnügen an Kitsch, Trash und Retrokulten. Vom Eurovision Song Contest 1974 an bis zum Comeback 2021 erweist sich ABBA so als Band, die immer wusste, wann ihre Zeit gekommen war und ist. Und wann sie wieder um ist. Denn „Voyage“, so verspricht es Benny im „Guardian“, ist definitiv das letzte ABBA-Album: „Jetzt kann ich euch aber sagen: Das war’s.“ Tja, dann: Danke für die Musik. Das hätte aber nicht nötig getan.