Hamburg. „Nie wieder Krieg“ sollte eine Trostreichung für Hörer sein. Es ist das lieblichste Album der Band – und vielleicht sogar ihr bestes.
Zuerst war da die Erdenschwere des studentischen Schrammelrocks; mit Slogans, zu deren frech jungstrotzender Intonierung Milchgesichter in Adidasanzügen monolithisch in der deutschen Indielandschaft herumstanden. Ist ewig her. Kann man sich kaum noch dran erinnern. Heute ist Dirk von Lowtzow längst ein Dandy, ein Popintellektueller, ein Kunstsänger.
Dirk von Lowtzow ist 50 Jahre alt, ein Mann, der mit seinen Kollegen von Tocotronic längst den Schönklang jenseits des Lärms entdeckt hat. Aber, und das ist die ästhetisch forciert Gegenbewegung: Je filigraner die Lieder Tocotronics in den vergangenen 30 Jahren wurden, desto gewichtiger wurde der Vortrag des Sängers Lowtzow.
Albumkritik: Tocotronic zog nach Berlin
Unbedingt Romantik-bereit, so könnte man eine Hauptlinie des tocotronischen Programms seit ca. 2002 beschreiben, als das „Weiße Album“ der von Hamburg nach Berlin übergesiedelten Band erschien. Das unterstrich den germanischen Touch der Rockgruppe, die im Laufe ihrer nun 13 Alben währenden Karriere textlich beinah kontinuierlich vielschichtiger wurde. Anders gesagt: Man verstand halt irgendwann gar nix mehr. Zumindest verglichen mit dem Instantzugang zu hermeneutischen Einzellern wie „Hamburg rockt“ oder „Ich glaube, ich habe meine Unschuld verloren“.
Eigentlich, und jetzt wird es „Blasphemie!“-Rufe hageln, sind Tocotronic erst nach ihrer Jugend Maienblüte zur textlich wirklich guten Band geworden. Und, wo wir schon dabei sind: Musikalisch mit der amerikanischen Erweckung durch den im Jahr 2000 dazugestoßenen Gitarristen Rick McPhail. Das lyrisch aufgepeppte Tocotronic-Lied ist nun seit zwei Jahrzehnten ein so treuer wie bewundernswert das Energie- und Qualitätslevel haltender Begleiter in guten und in schlechten Zeiten.
„Nie wieder Krieg“ sollte eine Trostreichung sein
Die gegenwärtigen Zeiten sind bekanntlich eher schlechte und ganz sicher komplizierte. Nach allem, was man Promo-mäßig hört und liest, wollte die Band mit ihrem neuen Album „Nie wieder Krieg“ ein Werk machen, das der Hörerin und dem Hörer angesichts des existenziellen Ausgeliefertseins eine Trostreichung ist. Ob mit oder ohne schöpferische Leitlinie, was den Bedeutungsüberbau angeht, lässt sich sagen: „Nie wieder Krieg“ ist das tatsächlich lieblichste Album, das die Band je aufgenommen hat. Und vielleicht sogar das beste.
Was sich mit den drei Vorab-Singles „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“, „Ich tauche auf“ und dem Titelstück „Nie wieder Krieg“ nämlich bereits andeutete, erweist sich auf Länge als vollendetes Indierock-mit-Schöndrall-Manöver. „Komm mit in meine freie Welt“ ist kristallklare Gitarrenherrlichkeit, aber zwischen die in ihrer Parolenhaftigkeit die frühen Schaffensjahre zitierenden Songs „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ und „Nie wieder Krieg“ steht er etwas egal da.
„Ich hasse es hier“ – ein fröhlicher Trennungssong
Das kann man so nonchalant sagen, weil die Topsong-Dichte so hoch ist. „Ich tauche auf“, das Duett mit Soap&Skin, hat in seiner somnambulen Versponnenheit den genau richtigen Kaloriengehalt für einen sättigenden Romantikgassenhauer.
Eingebettet ist der Song aber gottlob in eine federnde Poprevue. „Ich hasse es hier“ ist ein fröhlicher Trennungssong. „Nachtflug“ ist eine helle Ode an die Nacht. Das hinreißendste neue Tocotronicstück ist aber die Johnny-Marr-Ehrerweisung namens „Crash“. Klingt textlich wie ein Outtake aus dem 2018 erschienenen, Lowtzows Leben vertonenden Album „Die Unendlichkeit“: „Ich blicke zurück/In meinen Spiegel/Die Dinge sind näher/Als sie erscheinen/Woran das liegt/Kann ich nicht sagen/An der Physik/Oder den Träumen/Und all meine Freunde/All meine Feinde/feiern und streiten/Und begleiten mich/In einer Schneise/Zu mir nach Hause/Durch diesen Wald/Es dämmert schon bald“.
Es bleibt festzuhalten: Musik hilft. Tocotronic hilft.
Allerfeinste Lowtzowlyrik, nie ganz geschmeidig, aber gut aufgestellt im Land des Ungefähren. „Crash“ ist ein wie fürs mainstreamige Formatradio topproduzierter Song, der genau dort nie laufen wird. Aber da kann Tocotronic nichts dafür; es sind die Einfalt und die Einfallslosigkeit der Hörfunkleute, die sich konsequent ihre zerstörerischen Schneisen durch die heiligen Gemarkungen der Vielfalt schlägt. In „Leicht lädiert“ darf Rick McPhail ein Gitarrensolo hingniedeln, und dann kommt auch schon das erhabene „Hoffnung“.
Streicher und folgende Verse: „Hier ist ein Lied, das uns verbindet/Und es fliegt durchs Treppenhaus/Ich hab den Boden schwarz gestrichen/Wie komm ich/Aus der Ecke raus /Aus jedem Ton/Spricht eine Hoffnung/Transformation/ Aus jedem Klang/ Aus jedem Ton/Spricht eine Hoffnung/Auf einen Neuanfang“. Das könnte es sein, das Pathos der Pop-Prophylaxe gegen Pandemie-Koller: Musik hilft. Tocotronic hilft.
Albumkritik: Tocotronic hat noch etwas zu sagen
Es sind mit Liebe zum Klangdetail und zum tatsächlich elegant ins Werk gesetzten Sound Songs, die „Nie wieder Krieg“ zu einem Album machen, das der Band mehr als nur zur Ehre gereicht. Die leider berechtigte Frage, ob man als Popmusikkünstler nach so und so vielen Alben noch etwas zu sagen hat, lässt sich im Falle von Tocotronic jedenfalls freundlich und zugewandt beantworten.
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Anders als Jochen Distelmeyer und Blumfeld hat sich das Quartett nicht aufs Kuratieren des eigenen Werks verlegt. Das kann man sich auch gar nicht vorstellen, Tocotronic als lediglich die den eigenen, frühen Ruhm und ein paar Meilensteine bewirtschaftende Pop-Unternehmung. Dass aber wie zuletzt auch mal vier Jahre zwischen zwei Alben liegen, ist als grundsätzlich erprobtes eine weise Entscheidung. So hat man sie halt auch nie satt.
Tocotronic spielen am 16. April in der Edel-Optics Arena und am 19. August im Stadtpark (ausverkauft).