Hamburg. Was hat ein Stuhl mit Wertvorstellungen zu tun? Das erzählt Dokumentarfilmer Hauke Wendler in der Geschichte vom Plastiksessel.
Es gibt ihn wirklich überall, in Hamburg, Neu-Delhi, Mexiko-Stadt und Santiago de Chile. Er besteht aus Polypropylen und wird aus einem Guss gefertigt, man braucht für ihn weder Schrauben noch Scharniere, er ist ebenso leicht wie stapelbar und lässt sich schnell in riesiger Stückzahl produzieren: Der „Monobloc“ ist das meistgebrauchte Möbelstück der Welt. Wahrscheinlich gibt es über eine Milliarde Stück davon, und es werden täglich mehr.
Und doch kennen ihn hierzulande die meisten nur vom Wegsehen, denn er ist wahrlich keine Schönheit. Der Schriftsteller Max Goldt ätzte schon vor Jahrzehnten über die ästhetische Anspruchslosigkeit des Plastiksessels, der sich neben den Klassikern des Sitzmöbeldesigns wie ein hässliches Entlein ausnimmt. In den späten 1990er-Jahren machte der „Monobloc“ in Kreisen deutscher Fußballfans von sich reden, weil Horst Ehrmantraut, Trainer von Eintracht Frankfurt, sich während der Spiele einen der Stapelstühle abseits der Trainerbank aufstellte.
Kino Hamburg: Ein Ansammlung von Plastikschrott
Der in Hamburg lebende Dokumentarfilmer und Grimme-Preisträger Hauke Wendler wurde 2013 auf den „Monobloc“ aufmerksam. Er sah ein Foto in der Zeitung. „Da standen“, hat er später berichtet, „Dutzende dieser einfachen, weißen Plastikstühle in einer Wüste aufgereiht, inmitten der untergehenden Sonne. Ich dachte mir: Was für ein großartiges Bild – und was für eine unglaubliche Ansammlung von Plastikschrott!“
Seine Gedanken decken sich mit denen vieler Passantinnen und Passanten, die er für seine Dokumentation vor die Kamera gebeten hat. Niemand mag diesen Stuhl, viele erwähnen seine katastrophale Ökobilanz, anderen erscheint er wacklig, einer von ihnen schlägt ihn sogar einfach kurz und klein. Schaut man aber genauer hin, und das tut dieser sehenswerte Film, dann wird das Bild komplizierter.
Doku thematisiert eigene Entstehungsgeschichte
Die Erfindung des „Monobloc“ durch den französischen Ingenieur Henry Massonnet in den frühen 1970er-Jahren nimmt dabei nur einen kleinen Teil ein, wenn auch mit zuvor nie gezeigtem Videomaterial, in dem der inzwischen verstorbene Massonnet persönlich zu Wort kommt. Er meldete den Stuhl damals nicht zum Patent an, eine folgenreiche Unterlassung.
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Wendler geht es um andere Perspektiven auf den „Monobloc“. Er recherchiert im Internet – die Dokumentation thematisiert ihre eigene Entstehungsgeschichte immer wieder auf charmante Weise – und stößt auf die Organisation „Free Wheelchair Mission“, die sich dem Ziel verschrieben hat, gehbehinderten Menschen auf der ganzen Welt kostengünstig hergestellte Rollstühle zu verschaffen.
Kino Hamburg: Witzige Mediation über Ungleichheiten
Wendler fährt nach Kalifornien, um dort den Erfinder zu treffen, er ist aber mit seinem Team auch in Uganda zu Gast, wo die Rollstühle in Empfang genommen werden. Er reist nach Indien, wo er feststellt, dass der „Monobloc“ die Menschen vor dem Sitzen auf dem Boden bewahrt. Oder nach Brasilien, wo eine Müllsammlerin und ein lokales Recycling-Unternehmen vom „Monobloc“ profitieren. Entstanden ist eine spannende, oft witzige Meditation über globale Ungleichheiten und Wertvorstellungen, die ohne moralische Predigt auskommt.
„Monobloc“, Dokumentation, läuft im Abaton und im 3001