Hamburg. Star-Sopranistin Prohaska im Gruftie-Look mit Florian Boesch und Il Pomo d’Oro im Großen Saal. Ein Abend mit Höhen und Tiefen.
Anna Prohaska ist Sopranistin, ein Star ihres Fachs und kein bisschen Diva. Gala-Abend, Federboa? Fehlanzeige. Eher schon mal etwas Gruftie-Look, der dann aber einen charmanten Widerspruch zu ihrer frischen, zugewandten Art bildet.
Auch Prohaskas Repertoire orientiert sich offenkundig nicht an der Vermarktbarkeit. Sie singt alles von Renaissance bis brandneuer Musik, und stets wirkt es persönlich, empfunden, spricht es zu den Menschen. Kein Wunder, dass sie auch in Hamburg eine treue Fangemeinde hat.
Elbphilharmonie: Kantätchen stoßen auf Zuspruch
Wie jetzt zu erleben beim Kantatenkonzert mit dem Bariton Florian Boesch, dem die Elbphilharmonie diese Saison einen Schwerpunkt widmet, und dem Barockensemble Il Pomo d‘Oro. Das muss man erstmal auf sich wirken lassen: Geistliche Musik von Bach und Buxtehude steht ja gemeinhin nicht im Verdacht, schlagertauglich zu sein, und doch trifft sie in der Reihe „Elbphilharmonie für Einsteiger“ auf regen Zuspruch.
Zwar nicht in absoluten Zahlen; die Reihen sind löchrig besetzt, denn die Regeln lauten an diesem Abend auf 2Gplus mit Abstand. Die Atmosphäre jedoch ist so konzentriert, wie sie das sein kann, wenn es allen Anwesenden um das Gleiche geht.
Was die Programmwahl betrifft, müsste man eher von Kantätchen sprechen. Kurz sind sie alle vier und winzig besetzt, mit jeweils zwei Solostimmen und dem barocken Orchester-Mindeststandard, bestehend aus Streichern, Oboen und eigentlich auch Fagott (das im Programmheft auch angekündigt, aber offensichtlich kurzfristig ausgefallen war), Tasteninstrumenten.
Boesch zeigt sich gänzlich unbeeindruckt von allen Fallstricken
Keine Trompeten, keine Flöten, kein Chor. Da Bach die Kantaten nach Bedarf zur Aufführung an Sonntagen schrieb, richtete er sich in der Besetzung danach, welche Mitwirkenden ihm jeweils zur Verfügung standen. Das war sogar in den Jahren 1725 bis 1727 noch so, als er längst an der Leipziger Thomaskirche in Amt und Würden war.
Klein besetzt und kurz heißt nun allerdings mitnichten simpel. Im Zentrum der Bach-Kantaten steht der Dialog zwischen der menschlichen Seele (Sopran) und Jesus (Bass). Schon im Eingangschor zu „Ach Gott, wie manches Herzeleid“ BWV 58 ist zu hören, wie Bach die Raffinesse der Komposition und die Gedankentiefe auf kleinem Raum komprimiert: Boeschs Part klingt, als führte der Komponist die Hörer mit verbundenen Augen durch einen unbekannten Raum, so unerwartet sind die Harmonien, so plötzlich wechselt innerhalb eines Taktes die Stimmführung, so viele Silben sind in kurzer Zeit unterzubringen.
Das ist gelinde gesagt nicht sehr sängerfreundlich geschrieben. Boesch aber zeigt sich gänzlich unbeeindruckt von all diesen Fallstricken. Seine Stimme sitzt so gut, dass er in jeder Lage und durch alle Untiefen hindurch die musikalisch-theologische Botschaft mühelos und textverständlich vermitteln kann, selbst wenn er auf dem Wort „Nacht“ einen immensen Sprung in die Tiefe macht. So geht Sublimation.
Spielkultur von Il Pomo d’Oro ist schlicht phänomenal
Prohaska wirkt im Vergleich zu Boeschs nahezu beiläufiger Beherrschung der Mittel von Anfang an, als müsste sie mehr arbeiten. Ihre schlichte Melodie im Eingangschor strahlt nicht, wie die Bezeichnung „Cantus firmus“ nahelegt, sondern klingt angestrengt. Und in der Arie „Ich bin vergnügt in meinem Leiden“, liebevoll, hintergründig virtuos und mit einem fast oboenartigen Sound umrankt von der Sologeige, betreibt Prohaska mit Kiefer und Lippen, aber auch mit Gesten einigen Aufwand, um alle Kurven der vertrackt geführten Gesangspartie zu erwischen.
Intensität und Glaubwürdigkeit von Prohaskas musikalischer Gestaltung überzeugen auch an diesem Abend. Der Klang aber bleibt oft bei der Sängerin, statt sich im Saal zu entfalten, und geht dann leicht im Orchesterklang unter.
An den Musikern von Il Pomo d’Oro liegt das nicht. Ihre Spielkultur ist phänomenal. Unter der Leitung des Cembalisten Francesco Corti setzen sie auf gemeinsames Phrasieren und Artikulieren, um Wirkung zu erzielen. Schnöde Lautstärke haben sie nicht nötig. Der Orchesterklang ist mild, weich und farblich nuanciert, aber sie spielen immer mit Richtung und Aussage. Solo-Oboist und Konzertmeister bringen in den Soloarien ihre Instrumente auf allerfeinste, selbstverständlich historisch informierte Art zum Singen.
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Prohaska und Boesch singen Publikum in andere Epoche
Dieterich Buxtehudes Kantate „Ich halte es dafür“ nimmt das Publikum mit in eine noch frühere Epoche. Sie ist rund fünf Jahrzehnte vor denen von Bach entstanden, ist noch gefasster und strenger in der Machart und das Ensemble noch sparsamer besetzt. Es ist bezwingend, wie Boesch in der Arie „Was ängstet mein Herz“ die Qualen des lyrischen Ichs in Volten und Stauungen spürbar macht. Und im abschließenden Duett verschlingen sich seine und Prohaskas Stimmen ekstatisch: „Nur Jesu zu dir / steht meine Begier“. Das ist höchster sinnlicher und klanglicher Genuss.
Ein Saal, geeint von Bachs und Buxtehudes Glaubenslust und Todeszuversicht. Kaum zu glauben, dass es so etwas im 21. Jahrhundert gibt.