Hamburg. Der finnische Dirigent und Komponist präsentierte bei seinem Konzert mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester Eigenes und Berlioz.

So, wie es auf ewig „nur ein’ Rudi Völler“ gibt, gibt es auch nur eine „Symphonie fantastique“. Damit hat sich nun mal Hector Berlioz schon 1830, gerade mal drei Jahre nach Beethovens Tod, visionär in die musikalische Unsterblichkeit hineingeschrieben. Esa-Pekka Salonens Orchesterstudie „Gemini“ wurde 2019 von ihm in Los Angeles uraufgeführt, sie ist etwa halb so lang, aber ähnlich kurzweilig und besteht aus zwei konträren statt fünf sich auseinander entwickelnden Sätzen und der einen „Idée fixe“.

Ansonsten aber hätte das charakterlich sehr gemischte Doppel aus „Pollux“ und „Castor“ sich diesen fantastischen Namen zumindest als Untertitel durchaus verdient, für eine Raffinesse und Klangfarbenvielfalt, die sich selbstbewusst und zeitgemäß vor dieser und anderen Inspirationsquellen früherer Jahrhunderte verbeugt.

Esa-Pekka Salonen in der Elbphilharmonie

Im ersten seiner zwei Konzertprogramme mit dem NDR-Orchester, das ihm jeden Wunsch gern von den Händen und der generellen Körpersprache abliest, hatte Salonen zwei nicht ganz unähnliche Werke gekoppelt; unähnlich sind sie schon deswegen nicht, weil sie beide das ganz große Besetzung-Besteck auffahren lassen, um dem Publikum ein Maximum an Überraschungsmomenten zu bieten. Dass er sich dabei – um im Metaphern-Bereich des Fußballs zu bleiben – die Pässe selbst zuspielen kann, weil der Komponist Salonen theoretisch genau weiß, was der Dirigent Salonen praktisch zum Funkeln zu bringen vermag, macht die Sache live nur noch reizvoller.

Salonen schreibt mit enormer Kennerschaft der praktischen Möglichkeiten effektgefüllt zeitgenössische Musik für diejenigen, die „zeitgenössische Musik“ wahrscheinlich grundsätzlich nie mögen wollten. Bis sie ein Stück wie dieses, idealerweise in einem didaktisch so wertvollen Saal wie dem Zentrum der Elbphilharmonie, ganz selbstverständlich hören und dann angenehm überrascht feststellen: Ach, so schön kann das sein, noch nicht mal halb so wild? Na dann... Weiterbildungsauftrag spielend erfüllt.

Es entwickelte sich ein großes Wogen, Wiegen und Wollen

Salonen lässt sogar das Auge mithören, indem der Funke unentwegt aus einer Ecke des Orchester-Geschehens in eine andere überspringt. Eben noch ist kurz die heizungsrohrige Kontrabass-Klarinette knarzend dabei, schon legen die Blechbläser en bloc los, und alles ist überall gut ausbalanciert Und, wie toll, man hört auch noch allem beim Funktionieren klar zu. Die Show schnurrt so ihrem (begeistert gefeierten) Finale entgegen.

In „Gemini“ war am Anfang nicht das Wort, sondern treibendes, archaisches Pulsieren im Schlagwerk, und genau so, aber anders, endete das Stück auch, zur Freude der zuständigen Orchestermitglieder, die nach der Pause, beim Berlioz, ähnlich viel Percussion-Rabatz erwarten sollte. Aus dieser Keimzelle entwickelte sich ein großes Wogen, Wiegen und Wollen. Eine abstrakte, virtuos vor sich hin mäanderne Tondichtung, die mal wie genmanipulierter Debussy wirkte, weil unablässig Schattierungen und Farbtemperatur wechselten. Oder wie ein schnittiges Strawinsky-, Messiaen- oder Boulez-Update, wenn es drunter und drüber geht in der Abteilung „Rhythmus, bei dem alles mit muss“.

Esa-Pekka Salonen dirigierte mit gespannter Gelassenheit

Beeindruckend auch die innere Ausgewogenheit der Architektur: Längere Linien in einem Bereich stützten und trugen die Kleinteiligkeiten in anderen. Und Salonen dirigierte das Ganze mit organischen, fließenden Bewegungen, ohne unnötige Aufregung und mit gespannter Gelassenheit. Eine Haltung, die sich sofort von seinem Leitstand aus in den riesigen Orchesterapparat übertrug.

Leider eine abgegriffene Binse, doch auch hier so wahr wie einfach: Bei diesem Dirigenten sieht alles, und erst recht richtig Üppiges, geradezu absurd simpel aus. Servolenkung für großartige Musik. Dirigieren, was ist, der Rest findet sich eh wie von selbst. Alle um ihn herum wissen, was zu tun oder zu lassen ist. Man kennt sich, man mag sich. Sehr.

Diese Einstellung brachte auch die „Symphonie fantastique“ zum sofortigen Abheben. Bei diesem Berlioz, randvoll mit virtuos inszeniertem Größenwahn, war Salonen anzumerken, wie wichtig ihm die tänzelnde Beweglichkeit ist, wissend, dass ein solches Stück in Schönheit stirbt, sobald es statisch bleibt. Nichts wirkte massig oder hüftsteif, es war Spielen und nicht nur Arbeiten. Den einen oder anderen Originell-Spezialeffekt von Berlioz änderte Salonen bei dieser Aufführung leicht ab: Die Solo-Oboe im „Scène aux champs“-Satz antwortete nicht von hinter der Bühne auf das klagend fragende Solo-Englischhorn, sondern aus dem Saal-Mittelgebirge; das „Hell’s-Bells“-Gebimmel zum „Dies irae“ rief von der Bühne aus direkt zum Schafott und zum Jüngsten Gericht, nicht unsichtbar aus dem Backstage-Bereich.

Kürzlich übernahm Salonen das San Francicso Symphony Orchestra

Reizend, wie Salonen das Tutti durch den Ballsaal walzern ließ. Souverän die Eleganz, mit der er im schrillen Toben des Hexensabbats nicht verkrampfte und Tempo und Druck hoch hielt. Alles weniger radikal revolutionär romantisch ausgereizt, als es Sir John Eliot Gardiner bei seinem Ritt auf der Berlioz-Rasierklinge vor gut drei Jahren an gleicher Stelle geleistet hatte. Doch deswegen nicht weniger faszinierend.

Die Hamburger Salonen-Festspielchen des NDR, bestens gestartet, gehen in der nächsten Woche weiter, allerdings mit erneuten, diesmal coronabedingt bläserreduzierten Umbauten im Programm. Und am elbphilharmonischen Spielplan-Horizont zeichnet sich ein Wiedersehen mit Salonen ab, dann mit dem kürzlich von ihm übernommenen San Francicso Symphony Orchestra.

Das Konzert wird heute (20 Uhr) und am 23.1., 11 Uhr wiederholt, ist in der Mediathek der Elbphilharmonie online und der NDR EO App abrufbar. Nächste Salonen / NDR-Konzerte: 27. / 28.1., jeweils 20 Uhr: Nielsen „Kleine Suite“, Salonen „Kinema“, Grieg „Aus Holbergs Zeit“.