Hamburg. Ein ganz anderer Liederabend mit Schuberts „Winterreise“. Schon beim zweiten Stück verpasst der Sänger den Einsatz – mit Absicht?
So ungemütlich, wie es der Titel „Aus der Kälte“ suggeriert, ist es im Ballsaal des Kraftwerk Bille gar nicht. Teppiche zieren den Boden, ein Klavier steht im Raum, Lampenschirme verbreiten sanftes Licht, tatsächlich ist es auch angenehm warm. Das richtige Ambiente für einen Liederabend mit Franz Schuberts „Winterreise“.
Sänger Timotheus Maas und Pianistin Karolina Trojok beginnen denn auch konventionell: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ singt Maas die ersten Takte von „Gute Nacht“, ein bisschen forsch vielleicht, aber doch so, wie man es von einer Schubert-Präsentation erwartet.
„Aus der Kälte“: Kein konventioneller Liederabend im Kraftwerk Bille
Aber: „Aus der Kälte“ ist kein konventioneller Liederabend, sondern eine Musiktheaterperformance von Malina Raßfeld (Szenografie), Hans-Jörg Kapp (Regie) und Felix Stachelhaus (Musikalische Leitung), zu Musik einerseits von Schubert, andererseits vom Bremer Komponisten Uwe Rasch, dessen Schubert-Bearbeitung als „Materialhaufen“ bezeichnet wird, bei dem Raßfeld, Kapp und Stachelhaus „schauen müssen, wie sie klarkommen“. Und schon beim zweiten Stück wird klar, was das heißt: Maas verpasst seinen Einsatz, wirkt kurz irritiert, dann folgt ein Neustart. Kann ja mal passieren.
Passiert aber nicht einfach so. Die „Winterreise“ ist ein Dokument der Entfremdung, und in „Aus der Kälte“ entfremdet sich der Gesang erst vom Klavierspiel, dann die Komposition von der Performance. Bald übernimmt ein nervöses Zittern den Körper des Sängers, darauf dröhnen Störgeräusche durch den Raum, schließlich verschwindet Maas im Dunkel des schlauchartigen Ballsaals.
Der Abend zerfließt in unterschiedliche Richtungen
Und aus dem Liederabend wird ein szenisches Konzert, aus dem szenischen Konzert eine Installation, in der geisterhafte Videos über die Wände flattern, in der die Performerin Frauke Aulbert sich in ein falterähnliches Wesen verwandelt, in der Jana De Troyer und Chi Him Chik mit Saxofonen den Schubertschen Wohlklang konterkarieren.
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Nicht nur die Sängerfigur verliert also jeden Halt, auch der Abend zerfließt in unterschiedliche Richtungen. Dass Trojok irgendwann wütend den Klavierdeckel zuknallt und „Das ist kein Schubert!“ brüllt, ist dann fast schon zuviel des Konkreten (zumal an dieser Stelle auch niemand ernsthaft einen traditionellen Schubert erwartet hätte). Aber vielleicht braucht es diesen Ausbruch in den Humor ja – weil ohne ihn „Aus der Kälte“ gar nicht mehr zu ertragen wäre, in seiner künstlerischen Konsequenz, in seiner Hoffnungslosigkeit. Und nicht zuletzt: in seinem Ernstnehmen von Schuberts Weltverlust?
„Aus der Kälte“ wieder am 14. u. 15. Januar, 19.30 Uhr, 16.1., 17 Uhr, Kraftwerk Bille, Bullerdeich 14a, Karten über www.lichthof-theater.de