Hamburg. „Der Tod in Venedig“ wird durch glänzende Darstellerinnen auf der Bühne des Thalias in der Gaußstraße zur glorreichen Inszenierung.
Wer ist Thomas Mann und wenn ja wie viele? In Bastian Krafts Adaption der Novelle „Der Tod in Venedig“ tritt der Dichter in Gestalt von gleich vier Darstellerinnen auf die Bühne des Thalias in der Gaußstraße. Nach und nach verwandeln sie sich in den Protagonisten Gustav von Aschenbach, die gebeutelte Künstlerpersönlichkeit, die auf der Flucht vor Gefühlen des Alters und der Schreibhemmung Erquickung im mediterranen Venedig sucht und dabei auf eine verbotene Liebessehnsucht und eine wütende Seuche trifft.
Die Überführung von Prosa in den Theaterraum ist die Spezialität des Regisseurs Bastian Kraft. Zudem ist er einer, der – geschult an der Performance-Schmiede Gießen – Klassiker aufzubrechen versteht. „Der Tod in Venedig“ ist ein besonders sensibler Stoff. Kreist er doch darum, wie sich ein Künstler in einen 14-jährigen Jüngling verliebt. Ein Aufreger und Tabubruch. Gegossen allerdings in die schönste, meisterlichste und sehnsüchtigste Kunstsprache, modelliert zu einem Lob gottgleicher Schönheit.
Thalia Gaußstraße: Alternder männlicher Künstlertypus
Kraft umschifft die drohenden Fallstricke, indem er den Stoff nicht naturalistisch spielen lässt, sondern die Figuren auflöst im Erzählerischen, in Schattenbildern, in flirrenden Wasserprojektionen. Auf der Bühne stehen die großen Diven des Thalia-Ensembles als Wiedergänger des Dichters und seiner Figuren: Karin Neuhäuser, Victoria Trauttmansdorff, Oda Thormeyer und Sandra Flubacher. Unkenntlich gemacht durch die Detailarbeit der Maskenbildner. In grauen Anzügen mit grauen Westen samt Einstecktuch, grau gescheiteltem Haar markieren sie den alternden männlichen Künstlertypus und sind doch ratlos, zweifelnd, alles andere als selbstgewiss.
Die Wirkungsgeschichte der 1911 entstandenen Novelle schwingt immer mit, wenn etwa Karin Neuhäuser die berühmte Mahler-Melodie aus Luchino Viscontis Verfilmung pfeift. Das Reisen eigentlich hassend, zieht es Aschenbach eines schwülen Sommers ins italienische Venedig. Auf der den Bühnenhintergrund ausfüllenden Leinwand werden ein Gondoliere, ein Rezeptionist, ein Hotelpage und vier Musikanten projiziert, wiederum dargestellt von dem Darstellerinnenquartett, aber aufs Äußerste mit zotteligem Haar und viel Bart verfremdet. Die literarische Erzählung wandelt sich zum Schattenspiel, in dem filmisch die polnische Familie mit drei Töchtern und einem außergewöhnlich wohlgestalteten Jüngling auftauchen, der Aschenbach bald um den Verstand bringt.
Im ersten Teil des knapp 90-minütigen Abends verwendet der Regisseur viel Zeit auf die lineare Herleitung der äußeren Ereignisse, was mitunter zu Lasten des Tempos geht. Dabei hat er die Novellenhandlung klug zusammengestrichen. Todessehnsucht als Leitmotiv der Décadence, das Lob der vollkommenen Schönheit in Gestalt des idealisierten Knaben und die Künstlerkrise spart er gleichwohl nicht aus. Die Schönheit sei die einzige Form des Geistigen, welche wir sinnlich empfangen, sinnlich ertragen könnten, heißt es im bei Thomas Mann zitierten platonischen Dialog zwischen Sokrates und Phaidros. Die Schönheit wird damit, gleichsam göttlich, zum vorgezeichneten Weg des wahren Künstlers, der sich dabei jedoch in Leidenschaft und Rausch verliert.
„Der Tod in Venedig“: Der Matrosenanzug des Jünglings Tadzio
Die vier Dichterpersönlichkeiten befragen sich gegenseitig, reflektieren, analysieren. Und sie fragen explizit danach, ob es nicht leicht missverstanden werden könne, wenn hier stundenlang ein halbnackter Minderjähriger betrachtet werde. Victoria Trauttmansdorff entledigt sich schließlich ihres grauen Stoffes und hervor kommt der Matrosenanzug des Jünglings Tadzio.
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Durch diesen Kunstgriff – einen von vielen originellen Brüchen – wird sie zu einer Facette der Persönlichkeit Aschenbach-Mann. Ständig vermischen sich die Ebenen von Dichter, Hauptfigur und Werk. Ebenso die Geschlechterzuschreibungen dieser überaus männlich geprägten Künstlernovelle. Jeder Buchstabe ist in seiner Tiefe ausgelotet und mit feiner Zurückhaltung inszeniert, und so formt sich der Abend zu einem grandios gespielten, berührenden Tableau.
Gustav von Aschenbach und sein Schicksal
Erst langsam, dann immer stärker füllt sich der Bühnenboden mit Wasser, schwillt an zum Meer. Je schwüler das Klima am Lido und seinem Grand Hotel, desto enger schnürt sich das Schicksal um Gustav von Aschenbach. Zurück kann er nicht mehr. „Wer außer sich ist, verabscheut nichts mehr, als wieder in sich zu gehen“, heißt es.
Die Gerüche von Desinfektionsmitteln machen ihn stutzig, aber nur inoffiziell erfährt er von einer gefährlichen Cholera-Epidemie und behält gegen seine Moral dieses Wissen für sich. Zu weit hat er sich schon von seiner bürgerlichen Gleichförmigkeit, von Fleiß, Disziplin und der verdammten Meisterschaft, die Karin Neuhäuser wie einen Fluch ausstößt, entfernt. „Kunst ist Krieg“, klagt sie über den selbst auferlegten Zwang zur Selbstüberwindung. Bis zur unvermeidlichen Auslöschung.