Die norddeutsche Sängerin gab zwei umjubelte Konzerte im Großen Saal – und sie hatte einen besonderen Überraschungsgast dabei.

  • Ina Müller begeistert in der Elbphilharmonie
  • Beim Konzert in Hamburg liefert sie Galgenhumor
  • Für 2022 hat Ina Müller einen Vorsatz gefasst

Wie wollen wir das neue Jahr beginnen? Bewusst ohne Plan? Oder mit den viel zitierten guten Vorsätzen? Wer am Sonntagabend das Neujahrskonzert von Ina Müller im Großen Saal der Elbphilharmonie erlebt hat, der startete in dieses schnapszahlige 2022 unbedingt und vor allem: zutiefst menschlich.

Ina Müller zieht wie norddeutsches Wetter durchs Herz. Oftmals kalauernder Orkan. Gerne muntere Brise. Mal aber auch melancholisch driftendes Grau. In gut anderthalb Stunden pustet sie ihr Publikum durch, macht es lachtränennass, umweht das Gemüt und entlässt einen angenehm aufgewirbelt in die windige Nacht. Frei nach Kafka: Im Konzert gewesen. Gefühlt.

Ina Müller begeistert mit Konzert in der Elbphilharmonie

Wobei Konzert bei der Hamburger Sängerin und Kabarettistin ein unzureichendes Wort ist. Denn Frau Müller ist nun einmal unbestrittene Sabbelkönigin. Und in dieser Funktion liefert ihr die anhaltende Pandemie eine Steilvorlage nach der anderen. Stichwort: Galgenhumor.

Eigentlich sollten die beiden ausverkauften Auftritte an diesem ersten Sonntag im Jahr den Auftakt markieren, um mit ihrem aktuellen Album „55“ auf Tour zu gehen. Nun sind die weiteren Termine in den Herbst und bis hinein in das Jahr 2023 verlegt. Das Nachmittagskonzert in der Elbphilharmonie war somit fürs Erste die Premiere und der Auftritt am Abend bereits die Dernière. Was die Euphorie im Saal noch befeuerte.

Als Ina Müller mit einem lautstarken „Happy new year und moin moin“ die Bühne betritt, bricht sofort Jubel los. Und mit „Ich halt die Luft an‟ liefert sie direkt den Titelsong zum globalen Miteinander, in dem wir uns heutzutage im Guten wie im Schlechten befinden: „Wenn einem die große weite Welt / plötzlich auf die Füße fällt“. Doch mit satten „Ohoo“-Chören gibt es einen großen Schub Hoffnung anbei.

Ina Müller: "Stehe vor Euch mit dem perfekten Antikörper"

Wer Ina Müller kennt, der weiß: Vom Weltfrieden bis zur Kalauerkiste sind es nur wenige Stöckelschuhschritte entfernt. Sie schaut im tosenden Rund umher. Bis in die Reihen unterm Dach. Ergriffen? Womöglich. Vor allem aber treibt sie ein Gedanke um, während sie in ihr Dekolleté zeigt: „Ihr da oben könnt hier ja so richtig gut reingucken.“

Ina Müller macht die Scherze, die man sich selbst fünf Mal überlegt, weil sie dann doch zu flach sind. Über die aber letztlich viele lachen. Im Stile von: „Als ich das letzte Mal gesungen habe, war Corona noch ein Bier.“ Alles muss raus. Auch der Corona-Bauch. „Ich stehe vor Euch mit dem perfekten Antikörper“, frotzelt sie. Und das ist dann doch mit das Schönste an so einem Abend mit Ina Müller: Sie schlingert und hadert stellvertretend. Und die Anwesenden lachen mit ihr. Aber vor allem über sich selbst. Wie befreiend.

Müller bringt viel Zwischenmenschlichkeit in Elbphilharmonie

Ob sie nun in „Laufen“ gegen den körperlichen Verschleiß ansingt oder in „Rauchen“ ihr wildes Leben reflektiert: Wehmut und Witz reichen sich die Hand. Oder die Kippe. Oder die Yogamatte. Ein Lebenswandel, komprimiert in den wenigen Minuten eines Songs. Mal poppig voller Energie von der fünfköpfigen, sehr akzentuiert aufspielenden Band. Mal sehnsüchtig maritim und chansonesk mit Hardy Kayser an der Mundharmonika. Und häufig in feiner Mehrstimmigkeit gemeinsam mit den Backgroundsängerinnen Sarajane McMinn und Ulla Ihm.

Auch die beiden Kolleginnen werden von den wohlwollenden Sticheleien der Chefin nicht verschont. Haben sie doch das Corona-Soll mehr als erfüllt. Nämlich: Babys bekommen. Und Bananenbrot backen. Während sich Ina Müller wiederum mit Yoga befasst – samt Kommentaren des Partners: „Ist das eine Kerze, was du da machst? Sieht eher aus wie ein Teelicht.‟

Die Lacher sind garantiert. Und das Hach und Seufz ebenfalls, wenn Ina Müller wenig später die sehr berückende Ballade „Wohnung gucken“ anstimmt. Wenn sie vom Zwischenmenschlichen singt, vom Vertrauten und vom Leben der anderen, dann kommt das Raue, Warme und Wahrhaftige ihrer Stimme besonders gut zur Geltung.

2022 will Ina Müller nicht mehr so fies sein

Von der flotten Shopping-Befriedigung („Schuhe“) geht’s unmittelbar hinein in den schmerzvollen Verlust („Pläne“) und weiter in die Dorfjugenderinnerung („Fünf Schwestern“). Ina-Müller-Konzerte sind die pralle Existenz. Von zartbitter bis zotig. Etwa, wenn sie über Sex und Verhütung in den 80er-Jahren plaudert: „Mit meiner Spirale konnte ich NDR 2 empfangen.“

Und so richtig lässt sie sich selbst von der Kette, wenn sie sich über unsägliche Alltäglichkeiten aufregt. Denn schließlich übernehme mit nun mehr 56 Jahren allmählich „der innere maulende Rentner“. Famos wütet sie über Laubbläser, umgeräumte Supermärkte und Menschen, die oben an der Rolltreppe stehenbleiben. Ihr guter Vorsatz für 2022 sei es, nicht mehr so fies zu sein. „Aber dann müssen andere erst einmal aufhören, so doof zu sein.“ Viel Applaus.

Johannes Oerding als Überraschungsgast bei Ina Müller

Völlige Begeisterung packt das Publikum, als Ina Müller ihren Freund Johannes Oerding als Überraschungsgast auf die Bühne bittet. Der stellt dann auch direkt einmal klar, dass er ihr auch nach 13 Jahren immer noch gerne beim Yoga zuschaut. Süß. Aber als wären da nicht schon genug Herzchenaugen im Saal, singen die beiden dann noch im Duett „De Klock Is Dree“ – inklusive Lachkrampf bei der Zeile „Un du büst veel to jung / over dat kümmert mi nich“.

Mit einem Taschenlampenmeer zu „Wenn der liebe Gott will“ endet das Neujahrskonzert. Und da verrutscht Ina Müller in der Schönheit des Moments kurz der Text. Menschlich eben.