Hamburg. Unter der Leitung von Gianluca Capuano wurde im Großen Saal jede Emotion aus einer der berühmtesten Arien von Händel hervorgeholt.
Warm und schwer lastet der Streicherakkord. Dann erklingt er noch einmal etwas leichter, und schon wird eine Geste daraus. Bevor der Akkord ein drittes Mal erklingt und zum nächsten Takt weiterleitet, geht ein Raunen durch den Saal. Das ist der Anfang von „Lascia ch’io pianga“, einer der berühmtesten Arien von Händel, von ihm selbst mehrfach wiederverwertet. In der Elbphilharmonie musizieren Cecilia Bartoli und die Musiciens du Prince-Monaco die Fassung „Lascia la spina“ aus dem Oratorium „Il trionfo del tempo e del disinganno“, das haben sie schon bei den Salzburger Festspielen gegeben.
Auch in Hamburg nimmt sich Bartoli alle Zeit, um in der schlichten Melodie den tiefsten Empfindungen nachzuspüren, auch in Hamburg dimmt sie bei der Wiederholung ihren Mezzosopran in ein pianissimo hinunter, das ans Unhörbare grenzt – nur dass das Unhörbare dank ihrer Stimmtechnik und dank der Akustik des Großen Saals noch in der letzten Reihe zu hören ist. Selbst vom Orchester bleibt nur noch ein Hauch, ein Aquarell-Pinselstrich.
Elbphilharmonie: Cecilia Bartoli verzaubert den Großen Saal
Cecilia Bartoli ist ein Phänomen. Sie könnte aus dem Telefonbuch vorlesen, und die Menschen würden an ihren Lippen hängen. Egal wie oft sie ein Stück schon gemacht hat, es klingt jedesmal, als würde sie die Musik neu durchleben.
In die Elbphilharmonie sind die Künstler mit einem nicht ausgesprochen weihnachtlichen Programm gekommen. Abschluss und Höhepunkt ist das „Stabat mater“ von Pergolesi, das thematisch zum Karfreitag gehört.
Den Auftakt macht freilich nicht Bartoli, sondern der Countertenor Franco Fagioli mit dem „Nisi Dominus“ von Vivaldi. Fagioli ist ein Star seiner Zunft, doch an diesem Abend klingt sein Gesang nach Arbeit. Er singt stur geradeaus ins Parkett, dabei sollten doch inzwischen alle Sänger der Welt wissen, dass sie in diesem Saal selbst dafür sorgen müssen, damit sie auch für die Menschen neben und hinter ihnen noch zu hören sind. Fagioli nun klingt selbst aus relativer Nähe wie eingepackt. Präzise lässt er Koloraturen rattern, aber sein Vibrato ist so gleichmäßig schnell, genau wie seine Triller, dass man bisweilen nicht weiß, was davon nun gerade gemeint ist.
Bartoli strahlt Wärme, Beweglichkeit und pure Freude aus
Was Fagioli an Flexibilität und Spontaneität des Ausdrucks vermissen lässt, das macht das Orchester wett. Unter der Leitung von Gianluca Capuano holen die Musiker aus der Partitur jede Emotion, jeden Farb- und Beleuchtungswechsel hervor. Aufregend kontrastreich klingt das. Zu so einer Interpretation gehört einige musikalische Fantasie und Inspiration, gerade bei Vivaldi. Der hat das „Nisi Dominus“ nämlich mit der ihm eigenen Sparsamkeit vertont. Der venezianische Musikbetrieb war unersättlich, Vivaldi komponierte wie am Fließband, da gingen einstimmige Begleitungen einfach am schnellsten. Dass er unter diesen Produktionsbedingungen einen Ohrwurm nach dem anderen hervorbrachte, zeugt von seinem Genie.
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Mit dem „Domine Deus“ aus Vivaldis „Gloria“ betritt Bartoli die Szene und siegt auf ganzer Linie. Was für eine Wärme und Beweglichkeit, wie leicht kommuniziert sie mit dem Oboisten Pierluigi Fabretti, wie viel Freude hat sie offenkundig an dem, was gerade musikalisch geschieht! Etwa daran, wie Cembalo und Cello quasi improvisierend von Vivaldi zu Händel überleiten. Sie geben auch den Einsatz zur Arie, erst dann übernimmt Capuano wieder. So geht gleichberechtigtes Musizieren.
Als Händel Alessandro Marcello für Vivaldi hielt
„What passion cannot music raise and quell!“ ist ein kleines Juwel. Solocello und Streicherbegleitung bieten der Sängerin ein luftiges Gewirk an, und sie schmiegt sich im charmantesten Dreiertakt hinein. Das federleichte Stückchen stammt aus der „Ode for St. Cecilia’s Day“. Dass die Schutzheilige der Kirchenmusik ausgerechnet Cäcilia heißt, passt natürlich wunderbar.
Anders als Händel hat Bach Thüringen und Sachsen kaum verlassen, doch er war über die Musik in ganz Europa vernetzt. So hat er ein Oboenkonzert umgearbeitet, das er für ein Werk Vivaldis hielt. In Wahrheit stammt es von Vivaldis Zeitgenossen Alessandro Marcello. Pierluigi Fabretto spielt es mit einer solchen gesanglichen Freiheit, dass man sich schon denken kann, was Bach an der herzergreifenden italienischen Melodik bestochen haben muss.
Die klingende Verzweiflung einer trauernden Mutter
Pergolesi, der selbst schon mit 26 Jahren starb, hat in sein „Stabat mater“ die süffigsten und traurigsten Melodien der Welt hineingepackt. Von den ersten fast unerträglich gespannten Dissonanzen an fesselt einen diese Musik. Bildhafter kann man die Trauer einer Mutter nicht darstellen. Bartoli und Fagioli kosten die klingende Verzweiflung, aber auch die Hoffnung auf Erlösung voll aus. Und statt den Kollegen an die Wand zu singen, macht Bartoli Kammermusik mit ihm, mischt ihren Stimmklang mit seinem, geht auf ihn ein.
Großer Jubel von einem Publikum, das den ganzen Abend über gebannt bei der Sache war.