Hamburg. Der britische Tenebrae Choir und die Academy of Ancient Music kommen in die Elbphilharmonie – ein kompliziertes Unterfangen.
Unter Pandemiebedingungen aus dem post-brexitären England nach Festland-Europa zu reisen: Das ist schon für Privatpersonen schwer zu organisieren. Aber für einen Chor mit Orchester? Der reine Alptraum. „Das ganze ,stressig’ zu nennen, wäre untertrieben“, gesteht Nigel Short beim virtuellen Treffen am Bildschirm. „Es ist wirklich heftig.“
Der britische Dirigent geht mit Händels Messiah auf Tour und bringt seinen phänomenalen Tenebrae Choir und die Academy of Ancient Music auch in die Elbphilharmonie – vorausgesetzt, alles läuft glatt. Dafür gibt es natürlich keine Garantie. „Manchmal ändern sich die Reisebedingungen von einem Tag auf den anderen“, sagt Short. „Die Musikerinnen und Musiker fragen sich, was passiert, falls sie sich auf der Reise infizieren. Ob sie dann an Weihnachten überhaupt nach Hause dürften. Wir können die Reise nur so gut wie möglich planen und uns mit Maßnahmen für den Notfall absichern.“
Konzert in der Elbphilharmonie – wenn alles glatt läuft
Für seinen Kammerchor Tenebrae heißt das: Alle sind nicht nur doppelt geimpft, sondern auch regelmäßig PCR-getestet. Bei der Messiah-Tournee umfasst das Ensemble 19 Sängerinnen und Sänger, die Short in zwei Halbkreisen möglichst nahe hinter dem Orchester positioniert. „Der Chor darf nicht zu weit weg sein, weil es sonst schwer wird mit der Balance. Der Text muss im Zentrum stehen.“
Nigel Short weiß, wovon er spricht. Er hat Händels Oratorium als Knabe oft im Chor aufgeführt und später rund fünfzigmal die Altpartie gesungen, er hat das Stück dutzendfach dirigiert und außerdem hier und da Continuo gespielt. „Ja, man kann schon sagen, dass ich es in- und auswendig kenne.“ So wie auch die Mitglieder seines Kammerchors Tenebrae, allesamt exzellente Profi-Sängerinnen und -Sänger aus der britischen Vokalmusikszene.
Konzert in der Elbphilharmonie mit Leidenschaft und Präzision
Natürlich könnte man mit dieser Truppe und einem erfahrenen Alte Musik-Ensemble wie der Academy of Ancient Music auf die Bühne gehen und loslegen, das Ergebnis wäre mitreißend – trotzdem lohnt es sich unbedingt zu proben, wie Short betont. „Ich habe schon ein paar Ideen, die ich nicht erst im Konzert vermitteln möchte. Einen hellen Klang der Vokale zum Beispiel und einen energetischen Zugriff auf das Stück. Jede Aufführung soll etwas Eigenes sein, das jetzt im Moment passiert. Um diese Spontaneität zu ermöglichen, muss man vorher ein paar Dinge absichern.“
Passion and precision, also Leidenschaft und Präzision: So benennt Nigel Short das musikalische Ideal, das ihm vorschwebt, und das er auch in seiner Zeit als Countertenor der King’s Singers von 1994-2000 erlebt und mitgestaltet hat. Ein schöner Elchtest für diese Idee ist der Chor „For unto us a child is born“ aus dem ersten Teil des Messiah, der die Geburt des Christkinds voraussagt. Georg Friedrich Händel kleidet den Text in einen beschwingten Rhythmus und schickt die Chorstimmen in bewegte Koloraturenketten. Das müsse sehr genau mit dem Orchester austariert sein, sagt Short. „Als Sänger denkt man, dass man hier besonders hart arbeiten soll – und dann wird es noch schwerer. Der Chor braucht eine Leichtigkeit im Klang, damit er mit dem Orchester verschmelzen kann. Das funktioniert nur, wenn alle dieselbe Vorstellung von der Artikulation haben.“
Die gemeinsame Sorgfalt wird zur Voraussetzung für eine freie Interpretation. Auch in der a cappella-Passage „Since by man came death“. „Das singen wir auswendig, damit der Chor gar keinen Blick in den Notentext braucht und auf jede Nuance in der Gestaltung reagieren kann.“ Wer schon einmal das Glück hatte, Tenebrae live zu hören, darf sich auf diesen Abschnitt besonders freuen. Er gehört zu den anrührendsten Momente des Werks.
Vorfreude ist da: Jetzt muss es nur klappen
Händels „Messiah“ verdichtet zentrale Bilder der christlichen Heilsgeschichte – von der Geburt Jesu über seine Kreuzigung und Auferstehung bis zur Offenbarung – zu einem Oratorium, das auf eine echte Handlung verzichtet und das Publikum trotzdem unwiderstehlich in den Bann zieht.
Schon die Uraufführung in Dublin im Jahr 1742 war ein Riesenerfolg. Seither ist der Messiah eins der beliebtesten Stücke der Klassik, nicht nur wegen des „Hallelujah“-Chores. „Es ist halt für jeden etwas dabei“, meint Nigel Short. „Die christliche Botschaft, die vor allem religiöse Menschen berührt. Aber auch eine unglaubliche Qualität der Musik, die das Publikum sofort spüren kann.“
Diese Qualität vermittelt Nigel Short beim Konzert in Hamburg auch mit einem erstklassigen Solistenquartett. Alle vier Mitglieder sind ihm lange vertraut. „Mit dem Bariton Matthew Brook habe ich zusammen am Royal College of Music studiert, wir waren im selben Jahrgang“, erinnert sich Short. Die Sopranistin Grace Davidson ist seine Frau – und eine herausragende Solistin im Bereich der Barockmusik. Sie ist schon mehrfach in der Elbphilharmonie aufgetreten und hat ihrem Mann vorgeschwärmt. „Die Elbphilharmonie ist sicher eins der besten Konzerthäuser der Welt“, glaubt Nigel Short.
Die Vorfreude ist da. Jetzt muss es nur klappen. Trotz Brexit und Pandemie.