Hamburg. Violinistin kontert dem NDR-Sinfonieorchester mit Stücken von Glanert, Hillborg und Ligeti. Dabei gab es auch Anspielungen auf Hitler.
Bedrohlich klingt das Orchestertutti. Paukengrummeln unterlegt ein nervenzerfetzendes Crescendo, die Holzbläser mit dem Piccolo an der Spitze schleudern einen gezackten Rhythmus ins – Nichts. Oder ins Fast-Nichts. Ein hoher, hauchfeiner Ton ist im Raum zurückgeblieben. Der kommt von der Geigerin Midori. Ihre Guarneri seufzt leise, resigniert, zeit- und weltentrückt. Doch sogleich fallen Pauken, Fagotte und Streicher des NDR Elbphilharmonie Orchesters über die Solostimme her, begraben sie unter sich, der nächste Tutti-Höhepunkt schwingt sich auf.
Detlev Glanert hat für Midori sein zweites Violinkonzert „An die unsterbliche Geliebte“ geschrieben. Der Titel ist von einem Brief Ludwig van Beethovens entlehnt, den der Komponist zwar nie abgeschickt hat, der aber Weltruhm erlangte – um so mehr, als die Adressatin nie zweifelsfrei bestimmt werden konnte. Vier Orchester haben Glanerts neues Werk in Auftrag gegeben; die Uraufführung war Anfang November in Edinburgh. An diesem Abend im Großen Saal der Elbphilharmonie erlebt es unter der Leitung des charismatischen, überaus souverän dirigierenden Brad Lubman seine deutsche Erstaufführung.
Midori in der Elbphilharmonie: Grenzen des technisch Machbaren verschoben
Welche Chance hat nun eine einzelne Geige gegen die Übermacht eines riesigen Sinfonieorchesters? Mit der dialogischen Struktur des Konzerts stellt sich Glanert in eine Tradition: Zwischen Mitte der 1930er- und Mitte der 1940er-Jahre, während Deutschland sich anschickte, das alte Europa in Schutt und Asche zu legen, entstanden aus der Feder führender Komponisten rund zehn Violinkonzerte. Fast scheint es, als wäre die Gegenüberstellung eines einzelnen kleinen Instruments und eines großen Orchesters den Komponisten als Sinnbild für das Ausgeliefertsein des Individuums erschienen, wie es das Leben damals bestimmte – ob in Deutschland oder in der Emigration.
So schwingt die jüngere Musikgeschichte bei Glanert als Resonanzraum. In der Kreatürlichkeit, in der Heftigkeit der Stimmungsumschwünge erinnert das Konzert gelegentlich an Bartók, und es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet die Pauke oft mit der Geige Zwiesprache hält – schließlich ist das auch in Beethovens Violinkonzert der Fall. Glanert schöpft das Ausdrucks- und Klangfarbenspektrum der Geige voll aus und verschiebt die Grenzen des technisch Machbaren. In Midori hat er damit eine kongeniale Mitstreiterin. Diese Geigerin kann nicht einfach nur alles spielen, sie spielt mit offenen Augen und Ohren, offenem Herzen für das, was um sie herum geschieht, mit einem weiten, auch entschieden politischen Bewusstsein. Warme Perfektion ist das, himmelhohe Kunst.
„Sound Atlas“: Sinnliche Musik, weder banal noch simpel
Und noch eine deutsche Erstaufführung gibt es an diesem Abend: Der Schwede Anders Hillborg hat, wiederum im Auftrag vierer internationaler Orchester (aber bis auf den NDR sind es andere als bei Glanert), „Sound Atlas“ geschrieben, eine Klangreise in fünf Sätzen: hier schillernde, sich beständig wandelnde Flächen, dort akustische Expeditionen in den Wald mit all dem, was sie an widerstreitenden Empfindungen auslösen. Sinnlich ist diese Musik, zugänglich, aber weder banal noch simpel.
- Auf musikalischer Schatzsuche mit Cecilia Bartoli
- Igor Levit – ein Konzert der extremen Gefühlszustände
- Avi Avital: Schneeflocken weich ins Ohr gerieselt
Es gab Zeiten, da wäre ein junger Komponist für so einen Ansatz von den Vertretern des Serialismus, die die zeitgenössische Szene erbarmungslos beherrschten, schier massakriert worden. Heutige Komponisten wagen es wieder, für ein breites Publikum zu schreiben. Insofern ist die Rückkehr des guten alten Dur-Akkords in die zeitgenössische Musik ein Fortschritt.
Elbphilharmonie: Ligeti spielte in der Groteske auf Hitler an
Auch das dritte Werk, „Macabre Collage“ von György Ligeti, ist laut Programmheft eine Uraufführung. Dabei ist der Komponist schon schlanke 15 Jahre tot. Die Collage für großes Orchester, ein rein instrumentales Arrangement von Ligetis Oper „Le Grand Macabre“, hatte der Dirigent der Uraufführung, Elgar Howarth, bereits 1991 vorgelegt. Welche Revisionen er für die neue Fassung vorgenommen hat, wird nicht mitgeteilt. Ligetis Musik hat das aber auch in der komprimierten Form kein bisschen nötig. Vom ersten sorgfältig koordinierten Hupkonzert an – großer Auftritt für die Schlagzeuger – zeichnet sie wüste Szenen und Charakterbilder. Das ist sehr komisch.
Die Information aus dem Programmheft, dass Ligeti mit seiner Groteske Hitler meinte, bräuchte es nicht einmal. Auch so bleibt einem gelegentlich das Lachen im Halse stecken. Nur schade, dass dieses originelle Konzert nicht mehr Ohren erreicht. Der Saal ist weit entfernt von ausverkauft. Die, die gekommen sind, sind spürbar interessiert und kundig. Alle anderen haben einen Abend voller faszinierender Erfahrungen und von hohem Unterhaltungswert verpasst, präsentiert von einem glänzend aufgelegten Orchester.