Hamburg. Der Pianist spielte in der Elbphilharmonie existenzielle Werke von Bach, Busoni, Brahms, Mahler und Wagner. Die Konzertkritik.

„Wir sind in die beängstigend bedrohliche Atmosphäre einer Welt geworfen, die ihr Gleichgewicht verloren hat (…) Doch das bedeutet nicht, dass das, wonach wir bisher lebten, nicht mehr existiert. Weiterhin fühlen und lieben wir.“ Svjatoslav Richter schrieb so über den Moment des Weltkriegs-Jahres 1943, in dem er Prokofjews 7. Klaviersonate in Moskau uraufführte. Deutungen, die, angemessen relativiert, auch zum Klavierabend von Igor Levit passen würden, jetzt, in diesen radikal unklaren Zeiten.

Dass Levit kurzfristig für Yuja Wangs ProArte-Konzert mit Rotterdam und dem 2. Rachmaninow-Konzert eingesprungen war (ein Remake seines Einspringens für Lang Lang vor vier Jahren), sorgte in der – diesmal nicht ausverkauften – Elbphilharmonie für ein Programm, in dem die Sonne nicht allzu weit schien. Falls sie überhaupt auf- statt nur in wehmütiger Zeitlupe unterging.

Elbphilharmonie: Sechs zärtlich vorgestellte Gelegenheiten für Igor Levit

Eine mehrbödige, vielschattig abgedunkelte, trostsuchende Zusammenstellung bot Levit, in der nichts eindeutig verortbar war. Aber vieles im Fluss der Bedeutungsmöglichkeiten und schicksalshaften Veränderungen.

Zunächst die Choralvorspiele von Bach, vom Sehrspätromantiker Busoni auf ein anderes komplexes Level hochbearbeitet. Für Levit sechs zärtlich vorgestellte Gelegenheiten, mit rundem, warmen Ton zu beseelter Ruhe kommend in diesem nougatigen Wohlklang zu schwelgen, den Busoni den barocken Vorlagen als Themen-Grundierung verliehen hatte.

Defizite glich Levits tiefenbohrendes Sinnsuchen meisterhaft aus

Danach der erste Satz von Mahlers sehr jenseitiger Zehnter und unvollendeter Letzter, die Deryck Cooke 1960 aufführfähig gemacht und Ronald Stevenson in den fast kollabierenden Rahmen eines Konzertflügels gezwungen hat – jener Stevenson, dessen monumentalen „Passacaglia on DSCH“-Zyklus Levit kürzlich aus seiner Unbekanntheit holte.

Dieses Adagio ist eine riesige Zumutung, verlangt sie doch von einem einzigen Interpreten, die epische Abschiedserzählung mit nur einem Instrument und nur zwei Händen umzusetzen. Das entzog dem Ablauf viel von seiner erschütternden Größe, weil es Klangnuancen ausblendete. Doch diese Defizite glich Levits tiefenbohrendes Sinnsuchen meisterhaft aus.

Klavierfassung von Wagners „Tristan“-Vorspiel als Zugabe

Brahms‘ „Vier ernste Gesänge“, keine geselligen Feierabend-Lieder, ohne Gesangs-Stimme, von Reger weiter verdichtet, folgten nach der Pause. Hier aber ließ die von Brahms verkapselte Herzenswärme sich nicht durch Levits Annäherungsversuche erweichen; die vielsagenden Lieder ohne Worte ließen eher kalt. Und dann erst, als einziges Werk mit nur einem Urheber, die Prokofjew-Sonate, in der es mit manischer Willenskraftanstrengungen um Leben und Tod, Verzweiflung und Virtuosität zu gehen hat. Levit warf sich furchtlos in diese Musik, rang mit ihr und überlebte so sogar das stampfende Toben des brachialen Precipitato-Finales.

Zentral und vollendend in der Gesamt-Dramaturgie war neben dem Mahler-Satz aber die Zugabe, die Klavierfassung von Wagners „Tristan“-Vorspiel. Aufblühend um diesen legendär freischwebenden Akkord, der sehnsüchtig Fragen stellt, nach dem Woher, Wohin, Warum. Auch diese Bearbeitung forderte Levit in die Extreme: Wie schon beim Mahler zeigte er sich als packender Erzähler, der Spannung aufbauen und bis ganz kurz vors Reißen halten konnte. Die riesigen Orchester-Apparate Mahlers und Wagners, der Farb-Rausch, das transzendierende Wähnen und Wogen dieser so eng geistesverwandten Visionen – all das erwuchs aus Levits Gestaltung, die feinfühlige Pedalbehandlung und instinktives Auskosten überhöhte.

Aufnahme: „On DSCH“ Werke von Schostakowitsch und Stevenson (Sony Classical, 3 CDs) Konzert: 1. März: Ronald Stevenson „Passacaglia on DSCH“ Elbphilharmonie, Großer Saal