Hamburg. Kerstin Steeb inszeniert „Orpheus in der Unterwelt“ mit Elementen aus Operette, Drama und Videokunst. Tim Maas und Lisa Ziehm gefallen.

Orpheus und Eurydike haben die Schnauze voll. Sie wollen sich scheiden lassen. Dafür brauchen sie ein Gerichtsverfahren, mit dem Publikum als Schöffen. Das ist die Rahmenidee der aktuellen Opernloft-Produktion, frei nach „Orpheus in der Unterwelt“ von Jacques Offenbach.

Auf einer kargen Bühne mit zwei Stehtischen und einem Meer aus Kissen davor inszeniert Kerstin Steeb eine Scheidungs-Revue. Sie mixt Elemente aus Operette, klassischem Drama, Videokunst, epischem Theater und, tja, beinahe Comedy. Aber das trifft es nicht. In den komischen Momenten schwingt oft Bitterkeit mit. Wenn Eurydike über die Hafermilch zetert, die Orpheus trinkt, ist das schon witzig – zugleich aber auch ein traurig reales Beispiel für die abertausend Kleinigkeiten, an denen sich Beziehungen entzweien können.

Theaterkritik: Inszenierung fesselt mit Genrewechseln

Diese Ambivalenz vermittelt die Inszenierung eindringlich. Sie fesselt mit Perspektiv- und Genrewechseln und der Wandlungsfähigkeit ihrer beiden Hauptdarsteller. Die Sopranistin Lisa Ziehm und der Bassbariton Timotheus Maas singen, sprechen, raunen und rappen, sie stöhnen sich in Ekstase oder sumseln sinnlich umeinander herum – als sie sich mit einem meterlangen Blumenstängel erotisch bepinseln.

So virtuos, wie die beiden, elektronisch verstärkt, den Tonfall variieren, so gekonnt switcht die Regisseurin zwischen Erzählformen oder verschränkt sie ineinander. Besonders vielschichtig in der Arie „Che faro senza Euridice“, die Offenbach beim Kollegen Gluck geborgt hat. Während Orpheus den Verlust seiner Eurydike beklagt – sensibel begleitet von Amy Brinkman-Davis am Klavier und der Cellistin Belén Sánchez-Pérez –, blickt ihr Auge riesengroß von der Bühnenrückwand. Eurydike filmt sich selbst mit einer kleinen Kamera. Ist Orpheus‘ Schmerz nur ihre eigene Projektion?

Kerstin Steeb choreografiert eine schräge Tanzpantomime

Ein anrührender Moment. Doch dann läuft der Kommentar „Das war italienisch!“ über den Screen und nimmt der Arie ihren Ernst. Kerstin Steeb untergräbt die Stimmungstricks der Operette, aber sie tut es liebevoll. Auch beim berühmten Cancan, den sie genial dekonstruiert, indem sie eine schräge Tanzpantomime choreografiert. Maas und Ziehm spielen nicht nur ein ganzes Ensemble aus verschiedenen Rollen, die sie ironisieren und mitunter ins Groteske überzeichnen.

So bricht die lineare Handlung immer wieder auf. Auch mit Umfragen im Publikum, das mehrmals per Smartphone urteilen und den Fortgang des Stücks bestimmen darf. In der fünften Vorstellung wird Orpheus schuldig gesprochen, weil er sich zu Eurydike umgedreht hat. Zur Strafe muss er nackt Saxofon spielen. Wie uns die Inszenierung da den eigenen Voyeurismus vor Augen führt und ein Bild für die Verletzlichkeit des Menschen findet, das ist ein starkes Schlusswort.