Hamburg. Performance-Kollektiv Signa inszeniert an besonderen Orten. Premiere im ehemaligen Hamburger Paketpostamt Altona.
Die Pandemie hat einen regelrechten Naturboom ausgelöst. Sogar ein neuer Trend setzte sich durch: Waldbaden. Zwischen hohen Bäumen und auf erdigem Grund findet der gestresste Großstädter zu sich selbst. Diese Erkenntnis macht sich nun auch das österreichisch-dänische Theaterkollektiv Signa auf Einladung des Schauspielhauses zu Nutze und lädt zu einer seiner besonderen – und auch durchaus berüchtigten – Performance-Installationen ein: „Die Ruhe“.
Die langen, von schweren Glastüren durchtrennten Gänge des (ehemaligen) Paketpostamtes am Kaltenkircher Platz in Hamburg Altona verwandeln sich in ein Erholungszentrum. Am Eingang bekommen die – geimpften, genesenen und zusätzlich getesteten – 35 Premieren-Besucher ein Laken überreicht. Dann gilt es, im Schlafsaal ausgestreckt auf einer Matratze erst mal anzukommen.
Wege aus der Unruhe, Verstimmung und Krankheit finden
Dr. Antonia Ascheberg-Haus (Mareike Wenzel) weist mit sonorer Stimme kurz in den Kontext ein. Ein überwältigendes Naturereignis hat seinerzeit die ehemalige Klinik heimgesucht. In diesem neu gegründeten Erholungsinstitut lautet das Ziel: Wege finden aus der Unruhe, der Verstimmung, der Krankheit. Mit den Tieren als Freunden und Weggefährten. In Gruppen mit je fünf „Präparanden“ eingeteilt folgt man einem Begleiter in grauer Anstaltskleidung.
Das Signa-Theater, 2004 von der Dänin Signa Köstler und ihrem Ehemann, dem Österreicher Arthur Köstler gegründet, zieht einen langsam aber unausweichlich in seinen Kosmos hinein. Eine in sich abgeschlossene Welt, die Signa Köstler gemeinsam mit Lorenz Vetter erneut mit herausragend hässlichen Schrankwänden und Sitzgruppen, aber auch Erd- und Laubbergen und allerlei präparierten Tieren ausgestattet hat.
Begleiter Lambert (Andreas Schneiders), braucht eigentlich selbst Hilfe, wie sich schnell herausstellt. Der ungewollt verschuldete Tod seiner Tochter verfolgt ihn bis in seine Träume. Heilung versprechen nun verschiedene „Anwendungen“, die auch mal extremer ausfallen können. Niemand muss hier allerdings geben, wozu er nicht bereit ist. Ziel ist aber, das Menschsein abzulegen. Diese zerstörerische Gemeinschaft hinter sich zu lassen, in den Wald aufzubrechen und selbst die Baumwerdung zu vollziehen.
Besucher sind Teil des Theaters
Die Transformation beginnt mit dem Anlegen der uniformen Anstaltskleidung. Und setzt sich fort in einer übernommenen Rolle, wenn man sich hinter Lambert im Gänsemarsch durch die Gänge bewegt, vorbei an einer blubbernden, flötenden, knackenden Klangkulisse und jede andere Gruppe mit einem fröhlichen Pfeifen begrüßt. Immersives Theater, das auf der Partizipation der Besucher beruht, ist die Signa-Spezialität.
Damit ist das Kollektiv europaweit erfolgreich und hat das Konzept bis ins Detail perfektioniert. Vor allem in Hamburg, wo „Schwarze Augen Maria“ „Söhne & Söhne“ und zuletzt „Das halbe Leid“ aufwendig an unwirtlichen Orten installiert wurden. „Die Ruhe“ ist mit fünfeinhalb Stunden dabei deutlich sanfter, verträglicher als die extreme – und extrem lange - Milieustudie „Das halbe Leid“.
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Um Verstörendes, zuweilen Gewalttätiges geht es aber bisweilen auch hier. In einem Raum mit braunem Teppich und braunen Vorhängen wird man, angeleitet von einem schneidig sprechenden Pfleger, Teil einer „Waldaufstellung“. Es gilt, alles waldfremde in sich auszumerzen und in einer Art Reinigungsritual bereit zu werden für die Waldeinsamkeit, die letztlich auch schon die Erlösung im Tod umfasst.
Über die Gänge stromern verwahrloste Waldmenschen
„Beobachtet die Krähen“, raunt Lambert. Weiter geht es durch die Nacht. Das Zeitgefühl ist längst verloren. Eine Etage höher trifft man auf menschengroße Puppen und es gilt, sich selbst in einer von ihnen zu begegnen. Auch das geht nicht immer friedlich ab – vor allem für die Begleiter. Über die Gänge stromern verwahrloste Waldmenschen. Im toll inszenierten Wald selbst trifft man auf Wesen, die Stufen der Waldeinsamkeit bereits erklommen haben.
Man hört verstörende Geschichten von obsessiver Liebe von einem „Ewald“, der Probleme mit Frauen hat. Manchmal liest man aber auch einfach einem empfindsamen Mädchen ein Märchen vor oder lauscht später selbst der Geschichte von einem Dachs, einem Hasen und einem Gimpel. Loslassen, sich befreien, bei sich sein, lautet die Losung.
Signa eröffnet Bilder- und Erlebniswelten
„Die Ruhe“ macht es einem vergleichsweise leicht, hineingesogen zu werden. Die Begegnungen mit echter Wildnis – einer afrikanischen Riesenschnecke! – und unechter Wildnis – einem finster dreinblickenden Bären – gehen halbwegs glimpflich ab. Mit Gummistiefeln angetan trifft man im Nassbereich auf Arthur Köstler, der die Gruppe bei launigen Aal-Ritualen der Natur wieder ein Stück näher bringt. Zwischendurch bekommt der waldgestresste Großstädter im „Bistro“ sogar etwas urbane Bühnenunterhaltung und eine warme Suppe zur Erholung.
Die Performance bewegt sich wie frühere Arbeiten zwischen Psycho-Sekte, Schamanismus, Erzählungen von Gewalt und Tod, hier vermengt mit Ökologie. Nicht immer gehen die Geschichten auf, häufig haben sie einen Anfang aber kein Ende, das macht aber nichts. Signa eröffnet Bilder- und Erlebniswelten, die den Besucher auf einzigartige Weise mit sich selbst aber auch mit den Anderen konfrontieren. Bevor es heißt: „In die Ruhe, da musst auch Du“.
Signa: „Die Ruhe“ bis 15.1.2022, 2G-Plus-Vorstellungen, ab 16 Jahre, Paketpostamt Altona, Kaltenkirchener Straße 1-3, Karten unter T. 040/24 87 13; www.schauspielhaus.de