Hamburg. Bravos für „Der Geheimagent“ von denen, die ausgehalten haben – für ein spektakuläres Ensemble und ein tolles Bühnenbild.

Die berühmteste Haustür der Welt. 10 Downing Street, naturgetreu. Der schmiedeeiserne Zaun vor dem britischen Backsteingebäude, der weiße Holzrahmen, der so oft abgefilmte dunkle Eingang mit dem floralen Oberlicht-Ornament darüber, der mittig angebrachte Messingknauf. Soweit man das aus dem Parkett des Schauspielhauses Hamburg überblicken kann (und wenn man um die ausufernde Detailversessenheit des Bühnenbildners Aleksandar Denić weiß): Kein Schlüsselloch. Ganz wie im Original.

Und wer braucht zum Spionieren noch ein Schlüsselloch, wenn Kameramänner die Innenansichten auf herunterfahrende Leinwände übertragen (denn natürlich ist auch im Haus alles bis in die letzte Nuance ausgestattet)? Und die Drehbühne auch den Blick dahinter, auf den düster verdichteten Gebäudekomplex, ermöglicht? In den mit reichlich Nippes vollgestopften Laden des Adolf Verloc, Schmuddelbildchen an der Wäscheleine, in die oberen Stockwerke, in die engen Gassen von Soho, wo der Nebel aus der Kanalisation kriecht. Man kann sich nicht satt sehen.

Regisseur Frank Castorf ergänzt die ohnehin komplexe Story

Die Bühne von Aleksandar Denić eine Kulisse zu nennen, ist in etwa so untertrieben wie Frank Castorfs Inszenierungen mit dem Weihnachtsmärchen zu verwechseln. Beim letzten Mal hat Denić für Castorf Teile der Potsdamer Garnisonskirche auf die Schauspielhaus-Bühne gestellt, in München war es schon einmal ein ausgemusterter Hubschrauber der US-Armee. Diesmal also: das schummrige London des späten 19. Jahrhunderts.

„Eine einfache Geschichte“ lautet der Untertitel von Joseph Conrads Roman „Der Geheimagent“ von 1907 – das muss Castorf irgendwie übersehen haben. Er reichert an, verschneidet, montiert, ergänzt die ohnehin komplexe Story unter anderem um Passagen aus Conrads Biografie und dessen „Herz der Finsternis“.

Nicht alle Zuschauer kehren aus der Pause in den Saal zurück

Nicht immer kann (und sollte, vermutlich) man dem wilden Textgewitter bis in jede Verästelung folgen, vielmehr streckt man irgendwann die Waffen, erliegt dem musikalisch unterfütterten Rausch und lässt sich – wahnwitzige fünf Stunden lang, mit einer Pause, aus der nicht alle Zuschauerinnen und Zuschauer wiederkehren – durch den bewährt irren Trip, durch Identitäten und Ideologien tragen. Das Raum-Zeit-Gefüge gerät dabei auf mehreren Ebenen heftig ins Schwanken, die Motive, darunter Kolonialverbrechen und Terrorismus-Muster, werden eher subversiv verfüttert.

Das Gerüst der Handlung ist Conrads Politkrimi entnommen: Adolf Verloc (Charly Hübner) lebt mit seiner Frau Winnie (Anne Müller) und deren geistig zurückgebliebenem Bruder Stevie (Paul Behren, auch am Keyboard berührend) in Soho. Als Spitzel liefert er Berichte über die Anarchisten an eine ominöse, eigentlich ausländische Gesandtschaft (die ihren Sitz hier allerdings in der Downing Street hat).

Der dort residierende Vladimir (Josef Ostendorf) beauftragt Verloc als Agent Provocateur damit, ein Bombenattentat durchzuführen, um es den anarchistischen Kreisen in die Schuhe schieben zu können. Doch der Plan geht schief. Der klandestin bei einem Anarchisten-„Professor“ besorgte Sprengsatz geht zu früh in die Luft, mit knalliger Stichflamme, Stevie zerreißt es.

Zuletzt tanzt der Tod persönlich

Am Ende (als man sich längst dem Gedanken ergeben hatte, dass es diesmal gar kein Ende geben würde, konsequente Anarchie auch an dieser Stelle) tanzt der Tod persönlich durch die begeh- und bekletterbare Geisterbahn, „Live and let die“.

Da hat es bereits hochkomische Dialogszenen zwischen Josef Ostendorf und dem nicht weniger als spektakulären Charly Hübner gegeben (der nebenbei eine perfekt knödelige Ostendorf-Stimmimitation drauf hat), da ist das so schrullige wie sinnliche Figuren-Panoptikum schon hemmungslos durch die Assoziationen geschnurrt und auf der Seitenbühne auf rumpelige Zugfahrten gegangen.

Das Publikum hat sich an den glamourösen Kostümen von Adriana Braga Peretzki ergötzt, an mondän frisierten Frauen auf rasant hohen Hacken, in Straußenfederröcken und Ganzkörper-Tattoos, an der erotischen Wirkung einer Hustensalbe und immer wieder an der Selbstironie. Wie Hübner sich als Verloc ins Fleisch greift – „Völlig abgemagert!“ –, wie Ostendorf und Hübner sich zu Nana Mouskouri abknutschen, wie Anne Müller mit raumgreifender Geste das Offensichtliche verkündet: „Es ist Zeit für einen Monolog!“

Castorf lässt die Schauspieler durch David-Lynch-hafte Albtraumszenen raunen

Alles ist bis in die letzten Poren vergrößert, entweder durch das schonungslose Abfilmen oder durch die totale Übertreibung im Spiel. Bisweilen hat man den Eindruck, den Ausschweifungen eines Stummfilm-Ensembles zuzuschauen. Bloß, dass trotz des expressiven Spiels und der aufgerissenen Augen nichts und niemand stumm ist. Die Schauspieler bezwingen mit auf die Dauer anstrengend bedeutungsschwerem Sound echte Textmassen, Castorf lässt sie durch David-Lynch-hafte Albtraumszenen raunen und fiebern und flutet den Raum noch bis ins hintere Parkett mit Bühnennebel, die Parallelitäten des Geschehens sind genauestens durchchoreografiert.

Dieser Abend erschlägt, ist von allem zu viel und vor allem viel zu lang, ist gnadenlos, ermüdend – und darin furios. Das Ensemble ist schlicht brillant. Die divenhafte Angelika Richter, Anne Müller, Charly Hübner, Ostendorf und Behren – und natürlich Matti Krause, der nicht nur in seinen eigenen drei Rollen glänzt, sondern die Parts des kurz vor der Premiere erkrankten Michael Weber gleich mit übernimmt. Er ist es auch, der dem erschöpften Publikum, das schon mehrfach zum Schlussapplaus angesetzt hatte, schließlich das erlösende Zeichen gibt. Dann allerdings sind sogar noch Bravos drin.

Der Geheimagent“, Deutsches Schauspielhaus, Kirchenallee (U/S Hauptbahnhof), wieder am 5.12., 18.30 Uhr, und am 19.12., 16 Uhr, Restkarten unter T. 248713