Hamburg. Ibsen-Adaption „Die Wildente oder Der Kampf um die Wahrheit“ feierte in der Regie von Thorleifur Örn Arnarsson ihre gelungene Premiere.
Die Bühne ist eine finstere Oase. Schwarze Plastikpalmen recken ihre Blätter gen Himmel. Dunkles Erdreich türmt sich auf. Tierskulpturen stehen wie Öl verschmierte Kadaver traurig in der Gegend herum. Das Sprungbrett wirkt auch wenig einladend. Nur die Südsee-Fototapete sprengt das Bild ein wenig. Eine grandios kaputte Welt hat Bühnenbildner Wolfgang Menardi da errichtet.
Das Geschwisterpaar Helena und Gregers Werle, gespielt von Marina Galic und Jens Harzer, versprüht am Beckenrand müden Glamour. „Ich will nicht weiter zusehen, wie sich das Gift, das sich von uns weiter verbreitet, weiter ausdehnt“, stöhnt Harzers Gregers. Das Bad, Stolz und Brotbringer der Dorfgemeinschaft, ist verseucht. Aber auch die Familiengeschichte, wie sich noch erweisen wird.
„Die Wildente“ frei nach Henrik Ibsen
Die beiden, Erben der väterlichen Firma, wissen, dass sie am Ende sind. Wo Helena mit dominahaftem Kampfgeist aufbegehrt, tritt der aus dem Norden in die Heimatstadt zurückgekehrte Sonderling Gregers die Flucht nach vorne an. Zur Wahrheit. Zu den Fakten. Den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ein Getriebener, der den Bürgerinnen und Bürgern der Kleinstadt die Maske der Falschheit herunterreißen will.
In seinem Thalia-Debüt „Die Wildente oder Der Kampf um die Wahrheit“ hat der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson Henrik Ibsens „Die Wildente“ mit Handlungsfäden aus dessen Drama „Ein Volksfeind“ durchzogen. Arnarsson gilt als formstarker Weltenerfinder, doch an diesem Abend hält er sich zurück.
Bad-Träume mit Gina bleiben im Ansatz stecken
Zwar offenbart die Drehbühnenwelt immer neue faszinierende Einblicke – auch die zwischen Strenge und Glamour angelegten Kostüme von Andy Besuch begeistern. Inhaltlich herrscht allerdings eher karge Verzweiflung. Die Wahrheit will, wie so häufig, niemand hören. Hjalmar Ekdal (Merlin Sandmeyer) auf jeden Fall nicht, der zerstreut von der Arbeit kommt, wo ihn seine knurrige Frau Gina (Cathérine Seifert) und seine hochsensible Tochter Hedwig (Rosa Thormeyer) im Campinggestühl erwarten.
Hjalmar ist gereizt, unzufrieden, verzettelt sich in Wünschen nach grandiosen Erfindungen und hält sein Fotostudio kaum am Laufen. Der egozentrisch das Drumset traktierende Vater (Tilo Werner) strapaziert zusätzlich das Nervenkostüm. Sandmeyer dekliniert stolpernd und fallend aufs Feinsinnigste alle Stufen der Verlorenheit und Verzweiflung durch.
Nur einen Moment lang darf er träumen, dass er gemeinsam mit Gina im Glitzerkostüm ins Bad steigt. Seine Versuche, sich eine Halt gebende Welt zurechtzuzimmern, etwas zu finden, an das er glauben kann, bleiben in dieser Inszenierung schon im Ansatz stecken.
Wildente als Symbol für den strauchelnden Vater
Der Titel gebende, flügellahme Vogel, den die Familie aufpäppelt, wird zum Symbol für den im Sumpf des Lebens strauchelnden Vater, aber auch für die Tochter. Thormeyers Hedwig scheint mit ihrem schwächelnden Augenlicht über die Bühne zu schlafwandeln. Wenn sie wütend ist, flieht sie auf den Sprungturm.
Die Inszenierung konzentriert sich mit viel Klugheit und Gespür für Zwischentöne ganz auf die erstarrte Familie und die Begegnung der alten Freunde Gregers und Hjalmar, die zunächst zu einem verbalen Schlagabtausch wird in Bezug auf Gregers’ unbedingte Wahrheitsliebe.
Auf seine Frage, ob Hjalmar glücklich sei, erntet er betretenes Schweigen. Sein Wille zur schonungslosen Aufdeckung der Verseuchung des Bades schließt bald auch das vermeintlich verlogene Leben des Freundes mit ein – und zerrt ein Familiengeheimnis ans Licht, das aus der Zeit stammt, als Gina in den häuslichen Diensten der Werles stand. Denn nicht ohne Grund hat Gregers’ Vater die Ekdals und speziell Hedwig – in Wirklichkeit sein Kind - finanziell unterstützt.
Im Thalia dominieren überraschend leise Töne
Jens Harzer gibt den Idealisten furchtlos, rauchend mit eleganter Boheme-Lässigkeit. Mal zwängt er sich in einen Fummel, um mit Helena in der trüben Brühe zu plantschen. Mal greift er zum Mikrofon – und haucht einen Leonard- Cohen-Song. Das ist sehr düster, aber auch sehr ergreifend.
Die Idee, Umwelt und Familie kurzzuschließen, funktioniert, allerdings entwickelt Arnarsson, eigentlich eher für euphorisierende Überwältigungsbilder bekannt, die ganze Dramatik sehr konsequent überwiegend aus der „Wildente“ mit überraschend leisen Tönen. Und setzt auf dezente Bilder, ein paar Gefühlsausbrüche und schön gesungene, aber weniger zwingende Hits von Radioheads „Creep“ bis zum Jazz-Klassiker „My Favorite Things“, instrumentiert von Gabriel Cazes und Tom Gatza.
Im Zentrum stehen die psychologisch sehr genau gearbeiteten Figuren. Die sich entwickelnde Untergangsdynamik, die am Ende zu Unglück und Familienzerstörung führt.
Gelungener Theaterabend mit offenem Ende
Sandmeyer, Seifert und Thormeyer spielen die dysfunktionale Familie mit Hingabe. Schade nur, dass der wie immer kraftvollen Marina Galic im weiteren Verlauf wenig Entwicklungsmöglichkeiten bleiben, so dass sie in einer tollen Lack-Uniform mit Gewehr im Anschlag am Bühnenrand das Ende nur abwarten kann. Der Schuss, der bei Ibsen Hedwig von eigener Hand treffen würde, er löst sich nicht.
Arnarsson entscheidet sich für ein offenes Ende für diesen gelungenen Theaterabend, dessen Stärke vielleicht genau darin liegt.
„Die Wildente oder Der Kampf um die Wahrheit“ weitere Vorstellungen 17.11., 19.00, 28.11., 15.00, 18.12., 19.00 (2G), 27.12., 19.00 (2G), Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de