Hamburg. Auch ein gewiefter Algorithmus hat, wie das Elbphilharmonie-Konzert beweist, keine Chance, einen genialen Komponisten zu entschlüsseln.
Sechs Fernsehkameras in den unteren Rängen verteilt, dazu drei auf der Bühne. Und der ganze Saal in kräftigem Magenta ausgeleuchtet, damit bloß kein Zweifel aufkommt. Deutschlands Marktführer in Sachen Telekommunikation hatte das ganz große Besteck dabei, um sich selbst und sein musikalisches Prestigeobjekt „Beethoven X - The AI Project“ in Szene zu setzen; beim Konzert in der Elbphilharmonie samt Liveübertragung im konzerneigenen TV-Kanal.
Für die Realisierung des ursprünglich zum Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 geplanten und schließlich am 9. Oktober uraufgeführten Projekts war ein hochklassig besetztes Team von Musikwissenschaftlerinnen, Komponisten und Informatikfricklern engagiert. Diese Gruppe fütterte einen Computer zunächst mit Skizzen zu Beethovens zehnter Sinfonie und anderen Werken von ihm und seinen Zeitgenossen. Dann spuckte die Künstliche Intelligenz neue Vorschläge für die nächsten paar Takte aus, von denen die Expertenrunde die besten herauspickte und wieder in die Maschine einspeiste. Und so weiter. Bis eine vorzeigbare Fassung zusammengebastelt war.
Konzertkritk: Entscheidene Passagen fehlen
Das liest sich wie sehr aufwendig und kompetent gemachtes Stückwerk. Und so kommt es auch rüber. Obwohl das Beethoven Orchester Bonn und sein Chefdirigent Dirk Kaftan viel investieren, bleibt der Eindruck eher mau, zumindest über weite Strecken. Ja, manche Passagen dieser vermeintlichen „Zehnten“ klingen schon nach Beethoven. Etwa, wenn ein Motiv aus dem Scherzo der Fünften aufgegriffen und variiert oder in den Bläsern ein majestätisches Thema ausgebreitet wird. Hätte vielleicht auch bei Beethoven selbst so im Einzelfall in der Partitur stehen können.
Aber das, was die originalen Sinfonien als Ganzes ausmacht? Die packenden Spannungsbögen, diese weiträumig angestaute Energie, die sich irgendwann entlädt? Zu der man am liebsten aufspringen möchte? Gibt’s nicht, findet nicht statt. Lässt sich wohl schwer berechnen. Tja.
Erster Satz wirkt viel zu brav
Außerdem ist der erste Satz viel zu brav für einen echten, erst recht für einen späten Beethoven. Selbst da, wo Akzente gegen den Takt rumpeln, wirkt es planmäßig durchexerziert.
Der zweite geht mehr ins Risiko, wagt schärfere Kontraste. Aber als die große Trommel in den langsamen Choral hinein kracht, erinnert das eher an den Hexensabbat von Berlioz oder das Requiem von Verdi als an Beethoven. Und ob er in seiner zehnten Sinfonie tatsächlich eine Orgel eingesetzt hätte, die er als Komponist ansonsten konsequent ignorierte? Eher unwahrscheinlich.
Algorithmus hat keine Chance
Deshalb ist es ziemlich mutig, von einer „Komplettierung“ zu sprechen. Versuch einer Annäherung träfe es eher. Oder auch wissenschaftlich fundierte Spielerei. Aber dass selbst ein gewiefter Algorithmus nicht die leiseste Chance hat, ein Genie wie Beethoven zu entschlüsseln, ist ja auch eine beruhigende Erkenntnis. Und die hat die Aufführung hinreichend belegt.
Wie vergleichsweise blutleer dieses „AI Project“ gegenüber Musik von echten Menschen dasteht, demonstrierte das Programm – ob zufällig oder bewusst – mit der Auswahl der anderen Werke und seiner Solisten.
Gabriela Montero sprüht vor Spontaneität
Gerade Gabriela Montero vereint all das, was eine Maschine niemals erreichen kann. Die venezolanische Pianistin sprüht vor Spontaneität und Lust an der Kommunikation. Im Gespräch mit der Moderatorin Sarah Willis, die auf Englisch durch den Abend führte, aber vor allem, wenn sie am Flügel sitzt.
Im ersten Klavierkonzert von Schostakowitsch offenbart Montero – im Dialog mit dem Orchester und dem jungen Spitzentrompeter Simon Höfele – eine überbordende Fülle an Ideen und musikalischen Charakteren: da trifft tiefste Seelendüsternis auf sarkastischen Spott und durchgeknallte Momente, in denen sie losklimpert wie eine wildgewordene Barpianistin.
Dirk Kaftan animierte zur lebendigen Darbietung
Das war schon richtig stark. Noch mitreißender aber: Monteros Improvisation über „Auf der Rrrreperbahn nachts um halb eins“. Vorgesungen vom Publikum – und dann von ihr virtuos durchs Stilkarussell gedreht. Erst nach Art einer Bach-Invention, dann auf Schubert-Ländler getrimmt. Sensationell! Und vom Applausometer eindeutig als Höhepunkt des Abends eingestuft.
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Mehr Spielfreude geht eigentlich kaum. Aber auch Dirk Kaftan gab nochmal mächtig Gas. Bei Dvoraks Neunter Sinfonie, nach der Pause, säbelte der Dirigent seinen Taktstock mit rumpelstilzchenhaftem Furor durch die Luft und animierte das Beethoven Orchester zu einer nicht immer perfekt getimten, aber lebendigen Darbietung. Mit plastischen Kontrasten zwischen dem satten Sound im Blech und einem wunderbar zarten Pianissimo, etwa in Streichern und Holzbläsern. Wirklich schön!
Konzertkritik: Demut vor der Musik fehlte
Blöd nur, dass die Lüftung der Scheinwerfer an solchen Stellen lauter pustete als das Orchester klang. Ein vielsagendes Detail: Etwas mehr Demut vor der Musik und weniger Magenta-Show hätte dem Projekt „Beethoven X“ sicher nicht geschadet