Hamburg. „Hamburger Pianosommer“ im Großen Saal fand vor vollen Zuschauerrängen (2G) statt. Im Kleinen Saal galt 3G. Kann das funktionieren?

„Hier stehen zwei Ladys, die darauf waren, bespielt zu werden. Und dort drei Prachtexemplare, die das tun werden.“ Hui, das klingt ja mal nach einer sehr erotischen, alles andere als jugendfreien Sause. Aber hier swingen nur Klassik, Jazz und Boogie Woogie, wir sind schließlich nicht auf der Reeperbahn oder im Catonium, sondern in der Elbphilharmonie. Heiß ist es dort nicht, das Motto des Abends wird von kühlem Oktoberwetter ad absurdum geführt: „Hamburger Pianosommer“.

Seit 2016 treffen sich Klassik-Pianist Sebastian Knauer, Jazz-Star Martin Tingvall, Tasten-Entertainer Joja Wendt und Boogie-Woogie-Koryphäe Axel Zwingenberger jährlich zum gemeinsamen Spielen und Improvisieren, zuerst in der Staatsoper und seit 2019 in der Elbphilharmonie. Aber die Ausgabe vom August 2020 wurde in der Pandemie weiter und weiter verschoben. Am Dienstag ist es endlich soweit, und der fünfte „Pianosommer“ ist dann auch noch eine Premiere: Es ist das erste Konzert im Großen Saal der Elbphilharmonie unter dem Schirm der 2G-Regeln: Nur Geimpfte und Genesene haben Zutritt.

Elbphilharmonie: Im Großen Saal 2G, im Kleinen 3G

Das sorgt auf der Elbphilharmonie-Plaza, wo noch Maskenpflicht herrscht, für ein kurioses Durcheinander: Die lange Schlange zum Großen Saal erträgt geduldig das Prozedere mit Kontrolle der Luca-App, der Impf- und Genesenen-Nachweise und der Eintrittskarten. Dabei verknäulen sich die „Pianosommer“-Besucherinnen und -Besucher mit dem Publikum des Kleinen Saales, das auf dem Weg zum Trio Catch ist. Dort ist 3G angesagt. Besser lässt sich das immer noch heillose Durcheinander von Regelungen und Maßnahmen nicht abbilden.

Sebastian Knauer, Joja Wendt, Martin Tingvall und Axel Zwingenberger (v.l.n.r.)
Sebastian Knauer, Joja Wendt, Martin Tingvall und Axel Zwingenberger (v.l.n.r.) © Andreas Laible

In den Foyers des Großen Saales muss man sich auch erst mal wieder an volle Kapazität, an ein ausverkauftes Haus mit 2100 Menschen gewöhnen. Nicht wenige tragen hier noch Masken, sei es aus Routine, aus freiwilliger Risikominimierung oder Vergesslichkeit. Andere sind längst schon wieder im Rhythmus von 2019, ein Herr bestellt schon den sechsten Sekt: „Eine ganze Flasche wäre im Nachhinein günstiger gewesen“, bilanziert die Bardame, „aber wie sieht das denn aus?“, fragt der Herr. „Gut sieht das aus, als wenn Sie noch etwas vorhaben heute.“ Jetzt wird es doch heiß hier. Aber da fängt es auch schon an.

Alles wie immer, inklusive Gehuste und Geschniefe

Als erstes geht Sebastian Knauer unter großem Applaus zu den beiden wie Schlittschuhe im Karton schief ineinander geschobenen Flügeln. Etwas ungläubig schaut er in den fast vollen Saal. Knapp 50 Plätze bleiben leer. Da wurde vielleicht die Karte am Kühlschrank vergessen, mit der Impfung gezögert oder schlicht keine Lust mehr gehabt.

Aber blendet man das aus, dann ist der Konzertabend exakt konfiguriert wie der letzte „Pianosommer“ 2019. Zwei Flügel, vier Klavierhocker und am Rand vier weitere Stühle mit am Boden aufgeklebten Setlisten. Wendt gesellt sich zu Knauer, wird abgelöst von Tingvall, der den Tastenstaffelstab an Zwingenberger übergibt. Kokettierende Gesten, Gelächter und Applaus im Saal. Alles wie immer. Inklusive deutlich vernehmbarem Gehuste und Rotznasen-Geschniefe in den Sitzreihen.

Damit macht man sich in diesen Zeiten erst recht keine Freunde. Und auch die so genannten Architektur-Touristen gibt es noch: Neben uns sitzt ein Paar aus Kiel, das sich die Karten seinerzeit gekauft hat, ohne zu wissen, was sie musikalisch erwartet. Hauptsache, mal die Elbphilharmonie von innen sehen. Aber: Die beiden sind begeistert.

Joja Wendt steigt in den „Sonderzug nach Pankow“

Joja Wendt freut sich über alle, die gekommen sind. Aus Hamburg, aus Kiel, aus Ahrensburg wie Zwingenberger oder aus Schleswig wie die Frau, die etwas spät den Saal betritt: „Wir haben uns so gefreut, dass sie durch all die Nadelöhre gekommen sind und alles vorgezeigt haben, Impfpass, Steuererklärung. Diejenigen, die es hierher geschafft haben … auch sie, gnädige Frau. Sie haben nicht viel verpasst“, scherzt Wendt.

Der Abend ist auch noch lang genug. Zweieinhalb Stunden mit Pause stehen die beiden in Hamburg gefertigten Steinway-Flügel unter Volllast. Knauer kombiniert Beethoven mit Stücken seines aktuellen Albums aus Arash Safaians Werk „This Is (Not) Beethoven“ und Michael Nymans „Das Piano“-Soundtrack. Wendt greift erstmals zum Jazzstandard „Back Home Again in Indiana“ und testet Tingvalls Blues-Talent. Vor der Pause steigt Wendt auch noch gleichzeitig in den „Sonderzug nach Pankow“ und das historische Original „Chattanooga Choo Choo“, bevor der erste Vierer an den Flügeln die erste Hälfte beendet.

Und es war Sommer mit „Summertime“

Auch wenn alle große Kunst am Klavier zeigen, etwa Tingvall mit der Komposition „Rocket III“, ist besonders Zwingenberger das Zugpferd des „Pianosommers“, der für seine hastigen, donnernden Tastenflitzereien und das Doppel mit Wendt beim „6th Avenue Express“ den lautesten Applaus bekommt. „So, jetzt spiel’ ich ‘n bisschen Boogie Woogie“, sagt er und los geht die wilde Fahrt. Die roten Lackschuhe, mit denen Zwingenberger auf dem Parkett den Rhythmus vorgibt, sind eine Belastungsprobe für das edle Geläuf.

Das bewährte Konzept des „Pianosommers“, zu zeigen wie ein Stück klassisch, jazzig, avantgardistisch oder bluesig klingen kann, kulminiert im gemeinsam interpretierten Klassiker „Summertime“. „Genießen sie die neue Freiheit“, so Joja Wendt bei seiner Begrüßung. Und es ist schon spürbar etwas ganz Besonderes für die vier Pianisten, nicht länger in maskierte Gesichter und leere Sitzreihen blicken zu müssen. Auch wenn die Freiheit noch nicht ganz und schon gar nicht überall zurück ist. Aber hoffentlich dann im nächsten Jahr. Beim nächsten „Pianosommer“. Im Sommer.