Hamburg. Die Theater-Adaption von Sibylle Bergs Dystopie „GRM Brainfuck“ haut musikalisch um. Grime-Szenen sind die Stärke der Inszenierung.
„You’re In“ lobt der überdimensionale LED-Monitor und kippt unermüdlich neue Ladungen zuckerstreuselfarbener Reklameästhetiken in den Raum. Du bist dabei, ihr seid „drin“ – Drohung und Verheißung liegen hier nah beieinander.
Derart pink und türkis strahlt es ins Dunkle, dass man die Konzentration wahrscheinlich mit dem Geigerzähler messen könnte, wenn man zufällig einen dabei hätte. Aufdringliche Kirschblüten, rotierende Riesen-Donuts – und zwei Grinsegestalten, Pixelfleisch-gewordene Telefonstimmen, neoliberale Avatare auf Dauerwerbesendung (überzeugend künstlich und hübsch penetrant: Gabriela Maria Schmeide, Tim Porath), die live von den Segnungen der neuen Zeit schwärmen und deren Aufgabe – in einem „Jahrtausend, in dem der Zweifel über die Menschheit kam“ – offenbar die ununterbrochene Gehirnwäsche der noch nicht Bekehrten ist. „Nichts mehr real, aber egal – wir haben Smartphones!“
Sibylle Bergs düsterer 600-Seiten-Roman „GRM Brainfuck“ im Thalia Theater
Die flächendeckende Überwachung – gekoppelt an ein Grundeinkommen und ein Bestrafungssystem – auf der einen Seite und die noch unverbrauchten Underdogs, Systemverlierer und Systemflüchtlinge, auf der anderen Seite, davon erzählt Sibylle Bergs düsterer 600-Seiten-Roman „GRM Brainfuck“.
Regisseur Sebastian Nübling hat „das sogenannte Musical“, wie Berg die von ihr selbst stark gestraffte Theaterfassung im Untertitel getauft hat, für die Bühne des Thalia Theaters adaptiert. Es ist eine durchaus verstörende Generalabrechnung mit der Gegenwart im Gewand einer musikalisch aufgeladenen Dystopie. Eine Zuspitzung der Verhältnisse.
Und es knallt ordentlich. Jedenfalls in den Momenten, in denen sich das Außenseiter-Kollektiv in seinem „anarchistischen Zuhause außerhalb des Gentrifizierungsgürtels“ nicht um vermeintliche Anreize schert (wer seine Nachbarn bespitzelt, Müll trennt und auf Drogen verzichtet, bekommt Pluspunkte), sondern sich buchstäblich frei tanzt. „GRM“ steht für das Musikgenre Grime, eine Art rohe, basslastige Weiterdrehe von Hip-Hop, Dancehall und Ragga, schnell und treibend.
Grime-Szenen sind die große Stärke der Inszenierung
Die lauten, fetten, atemlosen Grime-Szenen sind – weil sowohl die fantastischen Tänzer aus der lokalen Szene als auch die beteiligten Ensemblemitglieder wie Maike Knirsch und Johannes Hegemann so irre gut darin sind – die große Stärke der Inszenierung. Die energiegeladene Originalmusik tost durchs Parkett, durch die Eingeweide und bis in den obersten Rang, sie ist aus London importiert: vom Grime-Kollektiv Ruff Sqwad Arts Foundation.
Aber: Der „dauernde Strom der Information“ rinnt durch die Hirne, wie es es an einer Stelle heißt, und daran leidet auch dieser Abend. Die Drehbühne dreht und dreht sich, die „Generation Multitasking“ muss nicht nur tanzen, sondern auch sprechen, und zwar meist im Chor.
- Warum auf Kampnagel durch feine schwarze Asche getanzt wird
- Wenn ein Konzert beginnt, bevor das Publikum es merkt…
- Die wahre Tragödie lauert in der eigenen Familie
Durch das so entstehende Schlagwort-Theater zieht sich vielleicht auch deshalb ein nebelmaschinengeschwängertes Pathos, das auf Dauer wahnsinnig ermüdet. Die Texte macht das bestimmt nicht schlechter, als ihr Transportmittel aber überzeugt das schließlich fantasielos wirkende chorische Dauerfeuer nicht. Zu sehr spürt man die Ambition, die Absicht der Message, zu sehr fehlt – bis auf wenige Momente – die Möglichkeit zur emotionalen Identifikation.
„WHATEVER.“ steht irgendwann riesig auf dem Billboard, okay, was auch immer. Trotz des musikalischen Sogs und der mitreißenden Energie, die das Ensemble transportiert – diese Resignation stellt sich auch beim Zuschauen ein.
„GRM Brainfuck“, Thalia Theater, wieder am 8./21./27.10., jew. 20 Uhr, Karten unter T. 32814-444