Hamburg. Das NDR Elbphilharmonie Orchester drehte vor Saisonbeginn mit Werken von Tschaikowsky und Prokofjew mächtig auf. Eine Kritik.
Ach ja, genau. So war das. Fast ganz vergessen, in den vergangenen anderthalb Jahren, als es immer so schrecklich still und leise und ungut distanziert sein musste. So kreislaufanregend laut hört es sich an, wenn eine ordentliche Blech-Besetzung für einige Takte von der Kette gelassen wird. Hörner, Trompeten, Posaunen, Tuba, Paukenwirbel, alles satt. Vollgas!
Und wer zuerst ans Bremsen denkt, hat verloren. Das eine oder andere extrabreite Lächeln auf den Gesichtern der Orchestermitglieder beim Schluss-Applaus war sicher kein Zufall, denn das gerade gespielte Stück endete noch phonstärker, als es begonnen hatte. Jeder Beckenschlag ein Treffer auf die Zwölf.
NDR Elbphilharmonie Orchester verzückte Hamburg
Ein ziemlich raffinierter Schachzug, den das NDR Elbphilharmonie Orchester bei seinem letzten Sommer-Extra-Programm-Auftritt vor dem regulären Spielzeitbeginn in der nächsten Woche machte: Überzeugendere Argumente für die Rückkehr zum klassischen Normalbetrieb mit voller Lautstärke und vollen Reihen als eine Runde spätromantische Rock-’n’-Roll-Symphonik mit Tschaikowskys Vierter geht kaum. Keine dieser Magerquark-Besetzungs-Notlösungen, die einem von der verdammten Pandemie in die Programmplanung diktiert wurden, sondern: Alles raus auf die Bühne, was geht, da es jetzt wieder geht.
Weil dieses Show-Angebot manchen verzückt überraschten Zuhörer im Großen Saal kurz aus dem Sitz zog, um dieser derart verführerisch dröhnenden Schallwelle ein wenig näher zu kommen, nahm Gilbert unmittelbar danach Tempo und Dynamik umso stärker zurück. Die sanft walzernden Passagen ließ er extra behutsam und extra ausgiebig ausbuchstabieren. Die Spannungs-Gegensätze, mit denen Tschaikowsky so virtuos in Gefühlsextremen versank, sollten ja so stark wie möglich anziehen.
Alan Gilberts Rechnung mit Peitsche und Zuckerbrot ging auf
Seine Rechnung mit viel Peitsche und einigem Zuckerbrot ging sehr schön auf. Das Dräuen und Darben in den zarten Moll-Schattierungen des Einstiegs durchlitt Gilbert gründlich, die Abgründigkeiten dieser Musik, das tränenfeuchte Tänzeln auf dem Drahtseil, die elegische Melancholie, die Drama-Queen-Temperamentsausbrüche, das trotzige Aufrappeln nach jedem Kollaps. Ein großes Vergnügen, das alles. Nach dem Kopfsatz kostete Gilbert das nusstortensüße Pathos des Andantino empathisch aus, Holzbläser-Glanzlichter inbegriffen. Die Streicher führten im Pizzicato-Scherzo ihr Schneeflocken-Ballett auf, während die Holzbläser nun mit Spieluhr-Einwürfen Kontraste setzten.
Danach ging es kopfüber hinein in die Exzesse des Finales, für das „con fuoco“ eine genau richtige Temperaturbeschreibung ist. Noch einmal russische Folklore-Zitate, riesig vergrößert und intensiviert. Für die ganz großen Schicksalsschläge, die Absturz-Generalpausen, die sich auftaten wie finsterste Gletscherspalten, ließ Gilbert allerdings die Pathos-Haubitze im Effekte-Regal. Doch auch so war das Nachzittern im Raum-Klang nach dem triumphierenden Schluss ein Erlebnis, das blitzartig süchtig nach Wiederholungen machte.
NDR-Orchester am Wochenende in Kiel
An diesem Wochenende steht für das NDR-Orchester noch das Finale des Schleswig-Holstein Musik Festivals in Kiel mit dem Über-Pianisten Daniil Trifonov und dem 2. Rachmaninow-Konzert an. Womöglich war die Entscheidung für Prokofjews „Sinfonisches Konzert für Cello und Orchester“ als Heimspiel-Aufwärmrunde für diese Art von funkelndem, schweißtreibendem Virtuosen-Repertoire gedacht.
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Und eines muss man Andreas Grünkorn, dem 1. Solo-Cellisten des Orchesters, lassen: Es gäbe etliche einfachere Stücke, mit denen man bei solchen Gelegenheiten außerhalb der Cello-Gruppe, allein an der Bühnenkante beweisen könnte, wie viel man kann.
Andreas Grünkorn meisterte seine Aufgaben
Die Aufgaben, auf drei mitunter langatmig mäandernde Sätze gestreckt, waren immens: Grünkorn musste sich mit seiner Stimme aus dem dichtgewebten Geschehen absetzen. Musste vergessen und überspielen, dass er nicht nur organischer Teil eines Ganzen, sondern ungestraft Erster unter Gleichen sein sollte. Dass Prokofiew das Solo-Konzert und seine Format-Konventionen auf links gedreht hatte, machte die Sache nicht einfacher.
Der erste, in sich verschachtelte Satz wirkte wie eine überlange Einleitung zu den rasanten Solo-Loopings im Allegro-Mittelsatz. Hier erst kam Grünkorn tonlich und emotional voll und ganz aus sich heraus, genoss die Kantilenen und die Möglichkeiten, die sie boten. Die Last dieser harten Arbeit hörte man nach wie vor, doch eben auch die Lust, sich einmal so frei ausreizen zu können, wie es nur ein Solist darf.
Nächstes Gilbert-Konzert: 1.9. 20 Uhr, Elbphilharmonie, Gr. Saal. NDR-Saisonstart mit Yo-Yo Ma (Cello). Eventuell Restkarten.