Hamburg. Das „Resonanzen“-Konzert im Kleinen Saal wurde nicht nur zum musikalischen Hochgenuss, sondern zum hochaktuellen Abend.
Das Ensemble Resonanz befragt in dieser Saison simple Körperteile auf deren Bedeutung im musikalischen Kontext. Auge und Rachen waren schon dran, das Motto des jüngsten „Resonanzen“-Konzerts im Kleinen Saal der Elbphilharmonie spielte nun mit der Doppelbedeutung des Wortes „Zunge“. Am allerwenigsten ging es dabei darum, dass das Organ für die beteiligten Blasinstrumente – Piccoloflöte, Trompete, Tuba – zur Klangerzeugung gebraucht wurde. „Zunge“ ist auch ein biblischer Ausdruck für „Sprache“, das fügte sich sinnfällig mit dem bemerkenswerten Erzählbogen, den das Programm schlug.
Los ging es mit „Mysteries of the Macabre“, einer Art Taschenfassung von György Ligetis grandioser Opernsatire „Le Grand Macabre“. Der Trompeter Jeroen Berwaerts und der Pianist Alexander Melnikov warfen einander nicht nur lustvoll auskomponiertes musikalisches Chaos um die Ohren, sie zischten auch „Psst! Psst! Psst!“ oder trugen herrlich sinnfreie Wortfetzen vor, etwa „That’s all“ oder „Bankgeheimnis“, und das mit ultimativem Pathos.
Melnikovs Klavierspiel war das schlagende Herz des Abends. Dieser Pianist schien mit seinem Instrument auf eine kreatürliche Weise verbunden, als gäbe es keine Grenze zwischen ihm und der Musik, die er aus den Tasten zog. In Galina Ustwolskajas Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken verschmolz er förmlich mit dem Ensemble. Im langsamen Satzteil vereinte er seinen singenden Ton mit Solobratsche und Solocello zum Klaviertrio. Immer tiefer zog das Stück die Anwesenden in den Bann seines schnörkellosen, existenziellen Ernstes. Das Werk, entstanden 1947, scheute weder vor Melodien noch vor tonaler Anbindung zurück; es behauptete gar nicht erst, Avantgarde zu sein.
Ustwolskaja erspart dem Publikum nichts
Darin war es dem Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester von Schostakowitsch, übrigens Ustwolskajas Lehrer am Leningrader Konservatorium, durchaus nah. Schostakowitsch aber spielte in seinem Stück nicht nur mit diversen Stilzitaten aus Klassik und Romantik. Durch die Musik schimmerte auch, anders als bei seiner Schülerin, immer wieder die für ihn so typische Ironie. Das Uneigentliche.
Umso erschütternder fiel der Kontrast zum letzten Stück des Programms aus. Noch mal Ustwolskaja, aber eine völlig andere. Für ihr „Dona nobis pacem“ verzichtete die Komponistin auf jeden melodischen oder tonalen Halt. Mit der Besetzung Piccolo und Tuba spannte sie den größten für Bläser möglichen Tonumfang auf, dazwischen vermittelte das Klavier. Auch hier ersparte Ustwolskaja den Hörern nichts, milderte nichts ab von den Aufschreien und dem unterirdischen Drohen. Dringlicher lässt sich die Bitte „Dona nobis pacem“ kaum fassen. Was für ein hochaktueller Abend.