Hamburg. Die Geschichte einer Produktion, bei der am Ende weder die Hauptdarsteller noch das Stück dasselbe sind wie zu Beginn.
Am Theater ist man abergläubisch. Immer schon gewesen. Bloß kein Pfeifen auf der Bühne, bloß keine Schuhe auf dem Bühnentisch und niemals nie bedanken für ein „Toi Toi Toi“. Bringt alles Unglück. Was aber, wenn im Vorfeld einer Premiere eigentlich alles schief geht? Wenn von Beginn an das Scheitern winkt? Dann werden manchmal Kräfte freigesetzt, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte.
Isabella Vértes-Schütter und die Regisseurin Adelheid Müther sind schon lange im Geschäft. Die Intendantin des Ernst Deutsch Theaters und die Regisseurin, die hier schon häufig inszeniert hat, sitzen im „Konver“, dem „Konversationszimmer“ des Theaters, ein Aufenthaltsraum, eine Künstlergarderobe, die Wand ist tapeziert mit Autogrammpostkarten. Es riecht ein bisschen nach Puder und nach kaltem Rauch und ein bisschen auch nach Hamburger Theatergeschichte. Und nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Koffein scheint nötig. Die Tagesprobe ist soeben vorbei, vorn wird die Kulisse für das laufende Abendstück eingerichtet, bei dem Isabella Vértes-Schütter selbst auf der Bühne steht. Die Maskenbildnerin wartet schon.
Aber um dieses, nun fast schon abgespielte Stück geht es hier gar nicht, es geht um das nächste. Am Donnerstag ist Premiere. „Toi Toi Toi!“ sagt Vértes-Schütter leise und pustet in den Kaffee. Adelheid Müther nickt.
Alles begann harmonisch
Dass diese Premiere überhaupt stattfinden kann, schien vor wenigen Wochen ziemlich unwahrscheinlich. Dabei hatte alles ganz harmonisch begonnen. Zur Theaternacht im September hatte die Schauspielerin Judy Winter dem Publikum das Stück „Irrwege“ vorgestellt. Sie sollte die Hauptrolle spielen; das Drama, das der „Pretty Woman“-Darsteller Paul Kribbe aus dem Niederländischen übersetzt hatte, war ihr Vorschlag gewesen. Was darauf folgte: verhängnisvolle Zufälle, unglückliche Umstände, davon allerdings reichlich.
Zunächst musste Judy Winter, Stammgast auf der Ernst-Deutsch-Bühne, die Rolle absagen, aus Termingründen, Dreharbeiten hatten sich kurzfristig verschoben. So etwas passiert, die Kollegin Maria Hartmann – ohnehin im Ensemble – übernahm den Part, die Hamburgerin Nina Petri wurde für die Hartmann-Rolle dazu engagiert, kein Problem, die Proben hatten noch nicht begonnen.
Autor steht besonders im Fokus
Die Vorarbeit allerdings durchaus. Und so recherchierte der Dramaturg für das Programmheft – und stieß dabei auf irritierende Aussagen des Autors Haye van der Heyden: Sowohl Holocaustleugner als auch Pädophile, so van der Heyden, der in Holland der rechtspopulistischen Partei von Geert Wilders nah steht und später erklärte, in Deutschland würde er die AfD unterstützen, verdienten ein Forum. „Wir waren geschockt“, erzählt Isabella Vértes-Schütter und schüttelt noch heute den Kopf. „Meine sofortige Reaktion war: Dann können wir das Stück nicht spielen.“
Eine Diskussion darüber, ob man es nicht hätte anders lösen können, habe es nicht gegeben. Die (zuletzt bei der Nobelpreisvergabe an Peter Handke aufgeflammte) Debatte über eine mögliche oder eben unmögliche Trennung von Werk und Autor ist eine, die man in einem Theater hätte führen, ein Thema, dem man einen Raum hätte geben können. An der Mundsburg aber hat man sich dagegen entschieden: „Bei einer deutschsprachigen Erstaufführung steht der Autor besonders im Fokus“, begründet das Vértes-Schütter.
Wunderbare Probenwoche
„Erst recht, wenn es ein lebender Autor ist. Und er agitiert ja aktuell und aktiv rechtspopulistisch. Was wiederum nicht im Stück thematisiert wird – ich hätte gar nicht gewusst, wie ich guten Gewissens hätte sagen können: Kommt alle zu diesem tollen Stück, obwohl dessen Autor so etwas Inakzeptables von sich gibt. Gegen die Haltung unseres Theaters und gegen das Spielplan-Motto ,Vielfalt’.“
Dass man ihr – wenn auch nur vereinzelt – „Zensur“ vorwarf, ficht die Intendantin weniger an: „Klar darf das Stück aufgeführt werden. Aber wir haben die Freiheit zu entscheiden, was wir spielen. Und wir wollen uns mit diesem Autor künstlerisch nicht verbinden.“
Adelheid Müther nickt. Das Ensemble hatte sich zu dem Zeitpunkt gerade zusammen gefunden, „eine wunderbare Probenwoche“ hinter sich gebracht, „richtig beglückend“ sei das gewesen, sagt sie. Alle mochten das Stück, alle hatten den Text weitgehend gelernt, „die Weichen waren gestellt“. Dann kam die Absage. Was man da als erstes tut? „Na, fluchen!“ Nach dem Schock – eine Darstellerin habe Tränen in den Augen gehabt, erzählt Müther – hätten alle die Entscheidung akzeptiert. Ausnahmslos.
Schauspieler mussten zusätzlich engagiert werden
„Wie solidarisch das Ensemble das getragen hat, das war schon großartig“, findet Vértes-Schütter. Sie hebt und senkt die Schultern, als hocke da noch immer eine Rest-Last. „Es hat ja für alle bedeutet, eine künstlerische Arbeit aufzugeben.“ Und umstandslos eine neue zu beginnen, denn die Premiere zu verschieben oder gar abzusagen, wäre nicht in Frage gekommen: „Das könnte sich ein Theater wie unseres nicht leisten. Wir haben 6000 Abonnenten, die bedient werden wollen. In 29 von 30 Vorstellungen sitzen Abonnenten. Wir mussten ein neues Stück finden. Für dieselbe Besetzung. Schnell.“
Doch auch das gelang. An einem Wochenanfang war man auf die Autoren-Äußerungen gestoßen, am nächsten Wochenende schon stand die neue Produktion fest: „Dinge, die ich sicher weiß“ von Andrew Bovell. Ging es beim ersten Stück noch um Selbstbestimmung im Alter, war die Themenvielfalt nun größer. Ein Familienstück. Zwei Schauspieler mussten zusätzlich engagiert werden, die übrigen blieben. Trauerten um alte Rollen, lernten neuen Text. Vor zwei Jahren hatte es am Ernst Deutsch Theater schon einmal eine Premierenrettung gegeben, damals war Volker Lechtenbrink schwer erkrankt und ein junger Kollege kurzfristig in Molières „Der eingebildete Kranke“ eingesprungen. Es wurde trotzdem ein Erfolg.
Joachim Bliese fiel aus
„Nicht vergleichbar!“, sagt die Regisseurin. „Nicht vergleichbar!“, sagt die Intendantin. Zumal das Unglück der Produktion treu blieb. Es schlug nur an anderer Stelle zu. Der Schauspieler Joachim Bliese hatte schon das erste Stück in der Theaternacht mit Judy Winter vorgestellt, er hatte anschließend mit Maria Hartmann sowohl „Irrwege“ als auch „Dinge, die ich sicher weiß“ geprobt. Er war der männliche Hauptdarsteller. „Und“, sagt Adelheid Müther, „er war unser Fels in der Brandung.“
Bis der 84-Jährige Mitte Dezember erkrankte. Und nicht weiterproben konnte. Joachim Bliese fiel aus, nach Judy Winter, nach dem ursprünglichen Stück. Und kurz vor der Weihnachtspause, die im Übrigen alle Darsteller ausdrücklich als probenfreie Zeit in ihren Verträgen stehen hatten. Das neue Stück war dem Publikum längst angekündigt, die Premiere am 16. Januar nicht mehr verhandelbar. Es musste – schon wieder – ein Ersatz her.
Isabella Vértes-Schütter, die zu diesem Zeitpunkt jeden Abend selbst auf ihrer Bühne stand, rief den Schauspieler Christoph Tomanek an, der mit Maria Hartmann schon einmal erfolgreich ein Ehepaar an ihrem Haus gespielt hatte. Tomanek las das Stück, war einverstanden, hatte gerade erst ein anderes Engagement beendet, kam vorbei, sagte zu – und fuhr in den lange vorher gebuchten Weihnachtsurlaub. „Eine Pause tat aber inzwischen allen ganz gut“, lächelt Vértes-Schütter und Adelheid Müther ergänzt: „Dass Joachim Bliese ausfiel, das hatte im Ensemble doch alle sehr verunsichert. Aber das Gute war: Man konnte niemandem böse sein. Es hatte niemand Schuld.“ Am 2. Januar begannen die Proben erneut, diesmal mit Christoph Tomanek. Zwei Wochen vor der Premiere.
30.000 Euro zusätzliche Kosten
Rund 30.000 Euro zusätzliche Kosten entstehen dem Ernst Deutsch Theater nun durch die Veränderungen, überschlägt die Intendantin. Und hofft auf ein paar mehr Zuschauer als ursprünglich kalkuliert. Die Bühnenbildnerin immerhin habe ein Konzept erarbeitet, bei dem schon gebaute Elemente aus „Irrwege“ verwendet werden, und einige Schauspieler treffen sich sogar privat zum Vertiefen ihrer Rollen. Das Engagement schweißt zusammen, das Haus geht offen mit der Situation um.
Und der Aberglaube? Auf die Frage jedenfalls, ob die Premiere denn gut laufen werde, klopfen Adelheid Müther und Isabella Vértes-Schütter entschieden, fast schon ein wenig empört, auf Holztisch und Stuhllehne im „Konver“. Vor der ersten Vorstellung werden sie allen besonders kräftig über die Schulter spucken. Nur über die linke, logisch. Sicher ist sicher.
„Dinge, die ich sicher weiß“ Ernst Deutsch Theater, Premiere 16.1., Vorstellungen bis 16.2., Karten 22,- bis 42,- unter T. 22 70 1420