Hamburg. Anika Mauer begeistert das Premieren-Publikum. Im Stück „Sophie“ im Ernst Deutsch Theater geht es um Kindheit, Ehe, Sterben.
Hanna ist glücklich. Freudestrahlend erzählt sie ihrer Mutter am Telefon, dass sie mit der neuen Freundin ihres Vaters ihren ersten BH gekauft hat, weiß mit roten Herzen. Als sie nach dem Wochenende wieder zu Hause ist, nimmt Sophie das Geschenk, zerschneidet es in sechs Teile und stopft es unter die Essensreste in den Müll. Das Glück der Tochter kann die verlassene Frau nicht aushalten.
Diese Übersprungshandlung ist symptomatisch für viele Personen in Roos Ouwehands Stück „Sophie“. Sie lassen sich scheiden, weil sie ihr Glück dort suchen, wo das Gras grüner zu sein scheint; sie jammern und beklagen sich; sie sind nicht in der Lage vernünftig miteinander zu kommunizieren. Eigentlich könnten sie glücklich sein, doch immer wieder katapultieren sich diese Figuren in einen Ausnahmezustand. Im Mittelpunkt steht Sophies eigenes Leben, aber sie erzählt auch das ihrer Eltern, ihrer Kinder und ihrer Nachbarn mit.
Schlichte Bühne mit einem Bett
Für die deutsche Erstaufführung des Stücks am Ernst Deutsch Theater hat Tom Schenk eine schlichte Bühne mit einem Bett in der Mitte gebaut. Es steht in Sophies Jugendzimmer, immer wieder wird sie im Laufe ihres Lebens darin zurückkehren. Das gusseiserne Matratzengestell dient als Schlafstätte, Kuschelplatz, Krankenlager, Totenbett. Zahlen an den Seitenwänden verraten Sophies Alter. Ihr Leben wird in zwölf Abschnitten von 6 bis 87 Jahren aufgeblättert. Nach jeder Szene schlüpft Anika Mauer, die Darstellerin der Sophie, im Hintergrund der Bühne in ein neues Kostüm, das ihre Verwandlungen und den Lauf der Zeit verdeutlichen (Kostüme: Erika Landertinger). Regisseur Antoine Uitdehaag spart mit szenischen Eingriffen, er vertraut dem Text und seinen Darstellern.
Mit Anika Mauer, die zum dritten Mal im Ernst Deutsch Theater auf der Bühne steht, hat Uitdehaag eine erstklassige Protagonistin zur Verfügung, der man den aufsässigen Teenager genauso abnimmt wie die frustrierte Ehefrau oder die Seniorin, die im Alter noch mal das Malen für sich entdeckt. Als junges Mädchen in Springerstiefeln ist sie ein Ausbund an Wut und putzt ihren linkischen Vater (Christoph Tomanek) mit schlagfertigen Argumenten runter, als der die Familie endgültig verlassen will.
Perfekte Illusion einer alten Frau
Das Leben ihrer Mutter (Maria Hartmann) spiegelt sich später in ihrem eigenen, als ihr Mann Kees (Daniel Schütter) sie mit zwei Kindern zurücklässt. Mit nur wenigen Mitteln gelingt es Annika Mauer später, sich in eine 77- und eine 87-Jährige zu verwandeln. Sie geht etwas gebeugter und o-beiniger, ihre Stimme wird ein wenig brüchiger und die Illusion einer alten Frau ist perfekt.
Was die Zuschauer in „Sophie“ zu sehen bekommen, kennen sie. Es sind Ausschnitte aus einem Leben und Szenen einer Ehe, wie sie jeder so oder ähnlich selbst erlebt hat – aus eigener Erfahrung oder vom Hörensagen. Es sind die Eindringlichkeit des Spiels und die sprachliche Präzision von Roos Ouwehands Text, die den Zuschauer berühren. Immer wieder gibt es Szenen, in denen die Augen feucht werden – oft aus Mitleid wie bei Daniels (Dirk Ossig) selbstironischer Lebensbeichte. Daniel war Sophies erster Freund und er wird ihr zweiter Ehemann. In der zweiten Hälfte ihres Lebens findet Sophie doch noch Glück. „Weil wir pfleglich miteinander umgehen“, sagt Daniel über die Ehe mit ihr.
Kein ungetrübtes Alter
Doch ungetrübt ist auch das Alter nicht. Alzheimer und zunehmende Gebrechlichkeit erschweren den Lebensabend. „Ich bin fast 80, aber ich habe keine Angst mehr“, resümiert Sophie ihr Leben. Anika Mauer bei Sophies Altwerden zuzusehen, liefert die stärksten und ergreifendsten Szenen dieses starken Theaterabends.
Am Ende gibt es sehr viel Beifall für Schauspieler, das Regieteam und für Roos Ouwehand. Die Schriftstellerin ist für die deutsche Premiere ihres ersten Theaterstücks extra aus Amsterdam nach Hamburg gereist. Bei der anschließenden Premierenfeier stellt Intendantin Isabella Vértes-Schütter wie stets alle Schauspieler vor. „Ich verneige mich vor Anika Mauer“, sagt sie. Zu Recht. Die Berliner Schauspielerin allein ist schon das Eintrittsgeld wert.