Hamburg. Die Premiere am Thalia überzeugt mit schratigen Kostümen, toller Maske und beweist aufs Neue die hohe Musikalität des Ensembles.

Die Nacht liegt dunkel da. Bäume recken sich in einen verfinsterten Himmel. Langsam beginnt die Drehbühne des Thalia Theaters zu kreisen und offenbart dem Betrachter jede Menge Details, die schon in der nächsten Runde wieder geringfügig anders aussehen (Bühne: Evi Bauer).

Eine Holz-Ente ruht auf einer Orgel samt Baumstammhocker. Ein Mann arbeitet sich an einer Birke ab. Ein Fuchs bewacht ein Grablicht. Auf einer Lichtung finden sie zusammen. Eine Horde Waldschrate, Nerds in Fat-Suits, Holzfällerhemden, Cowboystiefeln, Bomberjacken und Baseballcaps, mit Schnauzer und fettigem Haar. Wie Versprengte des einstigen amerikanischen Traums.

Ein musikalischer Trip mit Neil Young im Thalia

Der Kinderwagen, aus dem herzzerreißendes Babywimmern dröhnt, bildet das Zentrum, den Anlass der Versammlung. So hat es der Autor erdacht. Navid Kermani hat sich für die Thalia-Premiere seines bei Suhrkamp erschienenen Bandes „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ alles gewünscht, aber keinen Liederabend. Nun ist es doch einer geworden. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Regisseur Sebastian Nübling nennt es einen musikalischen Trip. Und der ist ihm gelungen.

Kermani, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, hat 2002 das schmale Erzählwerk verfasst, eine tiefe Verbeugung vor dem kanadischen Sänger, Songwriter und Gitarristen Neil Young. Ein Dokument der Huldigung und zugleich eine hellsichtige, philosophische Analyse großer Lebensfragen. Die Verehrung des Autors wuchs noch mehr, als Youngs Musik mit ihren mal sperrigen, mal kämpferischen, oft ausufernden Songs seine von Dreimonatskoliken geplagte Tochter beruhigte.

Melancholiker straucheln durch den Finsterwald

Und wie eine solche, endlos durchwachte Nacht wirkt auch Nüblings Musik-Theater-Trip. Felix Knopp, Thomas Niehaus, Merlin Sandmeyer, Gabriela Maria Schmeide, Cathérine Seifert und Maja Schöne glänzen darin als vom Leben porös gewordene (und ausschließlich männliche) Melancholiker. Sie straucheln durch den Finsterwald, ducken sich unter Ästen, erklimmen hohe Stämme oder hocken sich neben einen überquellenden Papierkorb an einer Straßenlaterne. Wald und urbanes Leben mischen sich in großer Unaufgeregtheit.

Meist jammen alle auf der Lichtung und wie sich das musikalische Duo aus Carolina Bigge und Lars Wittershagen die Neil-Young-Songs aneignet, das hat wirklich große Klasse. Mal rauen sie die Songs punkig auf, mit fünf sich trotzig aufbäumenden Gitarren, dann wieder verfremden sie sie mit viel seufzendem Synthesizer fast Dream-Pop-artig. Hits wie „Tonight’s The Night“ oder „Old Man Look At My Life“ tragen den Abend. Da gibt es eine tolle, düstere Endlos-Version von „Down By The River“ und eine rhythmisch beschwerte Version von „Heart Of Gold“ mit einem schönen Trompeten-Solo und vieles mehr.

Textlich bisweilen unbeholfen, musikalisch exzellent

Die kurzen Text-Exkurse wirken dagegen bisweilen unbeholfen, manchmal auch unfreiwillig komisch. Am überzeugendsten transportiert sie Felix Knopp, der eine düstere Grunge-Version des kanadischen Barden gibt. Die Vertreibung aus dem Paradies, die jeder Mensch mit dem ersten Atemzug erfährt, bewegt ihn. Die Unausweichlichkeit des Vergänglichen. „Es ist immer und immer die gleiche Bewegung auf die die Menschen hoffen. Den Kreis zu durchschreiten. Und durch die Hintertür wieder ins Paradies einzutreten“, sinniert Knopp, während er atemlos durch die Nacht stolpert.

Diese „Nacht“ offenbart erneut die exzellente Musikalität des Thalia-Ensembles. Gabriela Maria Schmeide gibt eine Grunge-Röhre und wetteifert mit Cathérine Seifert in ihrem Neil-Young-Wissen. Maja Schöne, wie die anderen bis zur Unkenntlichkeit kostümiert (stark sind die Kostüme von Pascale Martin und die Maske von Julia Wilms), lamentiert als grüblerischer Denker über den Liebesschmerz. Und Merlin Sandmeyer überzeugt in Johnny-Depp-Montur als Zitat aus dem von Young vertonten Jim-Jarmusch-Western „Dead Man“. Zur Gitarre legt er ein elegantes Solo hin.

Für Fans von Neil Young ein Muss

Die Drehbühne nimmt an Fahrt auf. Der Nebel wird dichter, das Mondlicht funzeliger. Die Songs werden noch ein wenig drängender, dringlicher. Am Ende sucht der Abend seinen Ausgang, findet ihn nicht recht und mäandert etwas ziellos vor sich hin. Die Bilder sind noch immer exakt arrangiert wie eine Installation, in der die Darsteller wie unheimliche Puppen wirken. Sie erweisen auch dem obsessiven Umwelt- und Naturaktivisten Neil Young ihre Reverenz: Ein Totempfahl. Ein toter Vogel. Ein Eisbär, der in einem Kühlschrank nach Erfrischung sucht.

Für die Anhängerschaft Neil Youngs ist diese gut zwei Stunden lange „Nacht“ ein Muss. Alle anderen können sich ihrer gepflegten melancholischen Düsternis hingeben und dabei auf jeden Fall musikalisch grandiose Entdeckungen erleben.

„Die Nacht der von Neil Young Getöteten“, wieder u.a. am 19.11., 20.00, 29.11., 19.00, 30.11., 15.00 Uhr, Thalia Theater, T. 32 81 44 44