Köln. Navid Kermanis „Nacht der von Neil Young Getöteten“ feiert im Thalia Premiere. Ein Gespräch mit Autor über Religion, Musik und Fußball.

Ein Hoftor in Köln-Eigelstein in der Nähe des Hauptbahnhofs. Eigentlich sollte das Gespräch mit Navid Kermani in seinem Büro stattfinden, doch der Schriftsteller lädt zu sich nach Hause ein. Seine jüngere Tochter ist krank und er muss sie versorgen. In seiner geräumigen Wohnküche spricht der Islamwissenschaftler, Essayist und Schriftsteller bei einer Tasse Tee über seine Beziehung zum Thalia Theater, seine Fußball-Leidenschaft, Schulbücher des IS – und über Neil Young. In seinem „Das Buch der von Neil Young Getöteten“, 2003 erschienen, beschäftigt er sich intensiv mit dem Werk des kanadischen Rockmusikers. Es ist Interpretation, Einordnung. Liebeserklärung. Vor 20 Jahren halfen ihm die Songs von Neil Young, um seine ältere Tochter in den Schlaf zu wiegen, wenn sie an Koliken litt.

Hört Ihre Tochter immer noch die Musik von Neil Young?

Navid Kermani: Ja. Sie geht zu Konzerten und hört seine Songs im Auto, aber vor allem, wenn sie mit mir unterwegs ist, denke ich. Es ist nach zwanzig Jahren immer noch unsere gemeinsame Musik.

Auf den ungewöhnlichen Buchtitel „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ kamen Sie durch Ihre Beschäftigung mit dem Koran, genau gesagt durch „Das Buch der vom Koran Getöteten“, in dem von Menschen berichtet wird, die beim Hören so überwältigt waren von der Schönheit, dass sie gestorben sind. Was ist die Verbindung von Neil Young zu Religion?

In den Improvisationen mit seiner Band Crazy Horse kann man hören und auch beobachten, wie er außer sich gerät und gar nicht mehr weiß, wo er sich befindet. Er selbst spricht davon in einem religiösen Vokabular, ohne jemals konfessionell zu werden, eher im Sinne einer mystischen Urerfahrung. Tatsächlich entsteht die Verzückung wie im mystischen Ritual durch das Zusammenspiel von Wiederholung und minimaler Variation. Die Kirchen und Moscheen sind im 21. Jahrhundert kaum noch der Ort für solche tiefgreifenden, auch erschütternden Erfahrungen, die über den Verstand hinausweisen; Verzückung, Ekstase, Hingabe sind heute eher in säkularen Zusammenhängen zu finden, auf Rockkonzerten, in der klassischen Musik, vielleicht auch in Technoklubs.

An diesem Sonnabend feiert „Das Buch der von Neil Yong Getöteten“ Premiere im Thalia Theater. Wer hatte die Idee, das Werk aufs Theater zu bringen?

Ich arbeite ja durch das „Herzzentrum“-Projekt, das 2013 aus der Beschäftigung mit meinem Roman „Dein Name“ entstand, schon lange und eng mit dem Thalia Theater zusammen und liebe das Ensemble. Bei Gesprächen mit dem Intendant Joachim Lux kam irgendwann die Überlegung auf, sich einmal „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ vorzunehmen, auch weil Neil Young das Herzzentrum bis heute begleitet. Beim letzten Mal sangen 600 Zuschauer „Helpless“, begleitet vom Ensemble Resonanz, das sonst Neue Musik spielt! So entstand die Idee, einen eigenen Abend über das Neil Young-Buch zu machen, irgendwie von selbst, und plötzlich hatten alle Lust. An sich ist das so abwegig, dass ich das sicher nicht von mir aus einem anderen Theater angeboten hätte, ich wäre gar nicht darauf gekommen.

Haben Sie die Stückfassung geschrieben?

Nein. Theater braucht Freiheit. Der Autor hängt am Text, aber wenn er immer reinredet, weil er will, dass der Text unversehrt bleibt, geht das nicht. Theater funktioniert so nicht. Ich bin zu verkrampft im Umgang mit eigenen Texten. Ich fahre zur Premiere und bin gespannt wie ein Flitzebogen. Ich vertraue dem Thalia. Da gibt es ein tolles Ensemble und Sebastian Nübling ist ein kluger Regisseur mit eigenen Ideen und Fantasien. Was will ich mehr?

Neil Young bietet eine Menge an interessante Themen. Sie sind in ihrem Buch unter anderem ausführlich auf die Songs „Pocahontas“ und „Cortez The Killer“ eingegangen, die ja Schlüsselwerke von Young sind und die sich mit Kolonialismus und der Unterwerfung der Indianer beschäftigen.

Absolut, Neil Young hat neben allem anderen immer wieder auch unglaublich starke Texte. Vor Probenbeginn habe ich mit Sebastian Nübling und der Dramaturgin Julia Lochte gesprochen, und wir waren uns einig, dass es kein Abend mit normalen Coverversionen werden dürfe. Die Theaterfassung muss eine eigene musikalische Sprache finden und die großen Themen von Neil Young tatsächlich ernst nehmen. Es geht nicht um eine Best-Of-Neil-Young-Show.

Worin liegt die Magie von Neil Young?

Das kann man nicht in einem Satz zusammenfassen. Dafür gibt es ja das Buch. Ich wollte das Nicht-Verstehen ausdrücken. Was passiert da? Wieso begeistert mich das so? Aus der Neugierde, das herauszufinden, ist das Buch entstanden. Es ist die Rationalisierung einer irrationalen Erfahrung. So ist es überhaupt in der Literatur: Wir sehen und erleben Dinge, die uns überfordern, die wir nicht begreifen, die uns verstören und denen gehen wir nach. Und im besten Fall gelingen uns Bücher, denen wiederum andere nachgehen.

Sie schreiben in „Das Buch der von Neil Young Getöteten“: „Ich fühle mich dort heimisch, wo Neil Young gespielt wird.“

Wenn ich zum Beispiel in Japan in eine Kneipe gehe würde, und dort würde Neil Young gespielt, wäre eine Verbindung da. Sofort. Die Zurückhaltung wäre weg und ich würde sagen: „Hallo, ich höre das auch!“ und wäre im Gespräch. Und wenn mich niemand verstünde, würden wir uns wenigstens verzückt zuprosten.

Wo fühlen Sie sich noch heimisch? Im Stadion des 1.FC Köln, deren Anhänger sie sind? In der Moschee?

In der Moschee sicher nicht, ich bin im Siegerland aufgewachsen, da gab es das nicht. Das Stadion ist wichtig. Ich war schon immer FC-Fan, schon als kleines Kind in Siegen. Das ist der einzige Ort, an dem ich eine Hymne singe, Alles, was bei Nationen gefährlich wird, bekommt beim Fußball eine Spielebene. Es geht um das Gemeinschaftsgefühl, das man dort ausleben kann und das ungefährlich für andere ist – wenn man nicht gerade Hooligan ist. Auf der Spielebene sind wir wie kleine Kinder. Wo gibt es das sonst noch, dass erwachsene Menschen weinen, vor Begeisterung auf einen Stuhl springen und den Nebenmann umarmen, den sie gar nicht kennen?

Sind sie im Stadion ein anderer Mensch?

Nee, ich bin kein anderer Mensch. Ich lebe eine Seite aus, die auch in mir ist. Wir sind nicht nur rational. Da kommen plötzlich Flüche aus meinem Mund, von denen ich gar nicht weiß, wo die herkommen. Beim Fußball werden normale Menschen 90 Minuten lang zu Fanatikern. In dieser säkularisierten Zeit gibt es nicht mehr so viele Orte, wo große Gefühle ausgelebt werden.

Sie werden nicht nur zur Premiere von „Die von Neil Young Getöteten“ nach Hamburg reisen, sondern am 5. Dezember im Thalia auch aus ihrem Buch „Morgen ist da“ lesen, Reden von Ihnen aus den vergangenen zwei Jahrzehnten. Was werden Sie lesen?

Die von mir ungefähr so sehr wie Neil Young verehrte Barbara Nüsse wird eine der Reden vollständig lesen, damit der Bogen und die Dramaturgie kenntlich werden – und zwar sicherlich nicht eine der ganz bekannten wie die Rede im Bundestag oder die Dankrede zum Friedenspreis. Während ihr Part also vorher feststeht, werde ich mich eher spontan entscheiden, welche Passagen ich auswähle.

Wie lange schreiben Sie an so einer Rede?

Schon lange. Mehr als ein bis zwei Reden pro Jahr sind gar nicht möglich, weil es mein Schreiben und Denken doch jedes Mal lange bindet.

In einigen Ihrer Reden gehen Sie sehr kritisch auf Saudi-Arabien und den Wahhabismus ein.

Der Hauptsponsor des Salafismus ist unser Bündnispartner Saudi-Arabien mit seiner Ideologie es Wahhabismus. Und wir wundern uns, dass der Dschihadismus und der Salafismus so stark geworden sind. Schulbücher, die der IS in Mossul benutzt hat, sind zu 98 Prozent identisch mit den Schulbüchern in Saudi-Arabien gewesen. Das gleiche Gedankengut, das uns bedroht und das wir bekämpfen, unterstützen wir, im dem wir uns mehr oder weniger kritiklos an Saudi-Arabien anschmiegen. Das ist Realpolitik, die immer wieder zu Katastrophen führt.

Ihre Familie stammt aus Isfahan. In einer Rede zum Dank für den Jahrespreis der Reuter-Stiftung stellen sie sich vor, wie es wäre, in dieser historisch bedeutenden Stadt ein Haus zu besitzen. Sie erwähnen auch die große religiöse Toleranz in Isfahan. Wie ist die Situation dort heute?

Der Hauskauf hat leider nicht geklappt, weil es zu teuer war. Es gibt dort noch eine urwüchsige Multikultur, viele Religionen und mehrere Sprachen, die man auf der Straße hört. Die Situation für Minderheiten ist alles andere als rosig. Gerade die Bahais, die größte religiöse Minderheit im Iran, werden dort verfolgt. In früheren Reiseberichten wurde diese Vielfalt immer gepriesen. Schon Goethe beschreibt diese Toleranz in seinem „West-östlichen Diwan“. Das heutige Isfahan ist aber weit davon entfernt.

Premiere „Die Nacht der von Neil Young Getöteten“ Sa 16.11., 20.00, Karten ab 31,-

Lesung Navid Kermani: „Morgen ist da“ Do 5.12., 20.00, Karten ab 11,-, Thalia Theater (U Jungfernstieg), Alstertor 1