Hamburg. Wieso es in der Kunst nicht nur ums Schöngeistige geht und Eltern Mathe als Schulfach wichtiger ist als Musik.

Kultur ist ein Bonus. Hauptsache, wir haben alle ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, so eine gelegentlich vertretene Meinung. Warum sich das eine nicht vom anderen trennen lässt, erklären im Expertengespräch Philosophie-Professorin Birgit Recki und Dr. Lina Franken (Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie) von der Universität Hamburg. Auch die Elbphilharmonie, freier Museumseintritt und die Frage, ob Schöngeistiges glücklich macht, sind Thema

Was ist unter dem ja etwas vagen Begriff „Kultur“ aus Ihrer Sicht zu verstehen?

Lina Franken: Kultur ist etwas, wodurch Menschen sich ihrem Umfeld verständlich machen, mit dem wir Sinnhaftigkeit konstruieren, uns die Welt erschließen. Damit ist Kultur immer etwas von Menschen Geschaffenes, das in historischen und größeren gesellschaftlichen Settings stets neu ausgehandelt wird. Kurz gesagt: Kultur ist alles, was Interaktion zwischen Menschen ermöglicht.

Birgit Recki: In genau dem Sinn legen wir auch in der Philosophie Wert darauf, den Begriff der Kultur weit zu fassen. Es geht nicht nur um das Schöngeistige und Intellektuelle, das, womit sich das Feuilleton einer Zeitung beschäftigt. Aus der Perspektive der Kulturphilosophie ist Kultur alles, was Menschen aus sich und den vorgefundenen Verhältnissen machen, die gesamte menschliche Welt, sofern sie auf Aktivitäten und Leistungen des Menschen zurückgeht. Wer die Frage stellt, ob Menschen Kultur brauchen, muss sich also vergegenwärtigen, dass dieser Kulturbegriff alles umfasst. In diesem Sinne ist eine menschliche Welt ohne Kultur unmöglich.

Lina Franken: Die Aussage, dass alles Kultur ist, mag bisweilen banal erscheinen, aber spannend wird es dann, wenn wir nach den Bedeutungen fragen. Warum handeln Menschen so, wie sie handeln? Warum gestalten sie ihren Alltag so, wie sie ihn gestalten? Das sind die Fragen, die bei der Kulturanthropologie im Mittelpunkt stehen, wir fragen nach den Kontexten von alltäglichen Handlungen und Symbolen.

Können Sie ein konkretes Beispiel geben?

Lina Franken: Nehmen Sie das Thema Wohnen. Wir sprechen derzeit unter anderem über das Recht auf Wohnraum oder über den Mietendeckel, da findet gerade eine gesellschaftliche Aushandlung statt. Wir Menschen müssen nicht nur wohnen, uns also durch eine Behausung schützen, sondern Menschen gestalten ihren Wohnraum je einzigartig. Wenn man in die Wohnungen hineinschaut, sieht man: Das ist im höchsten Maße kulturell geprägt, nicht nur in dem Sinne, welche Musik im Wohnzimmer läuft oder welche Bilder an den Wänden hängen. Schon ein Sofa oder Tisch kann ein kulturelles Statement sein, deren Anordnung im Raum etwa. Es gibt da keine klare Grenze zwischen den Kulturbegriffen.

Birgit Recki: Kultur braucht der Mensch, um sich artgerecht am Leben zu erhalten. Und es gibt ein Kontinuum zwischen den elementaren und den verfeinerten oder „hochgeistigen“ Bedürfnissen. Ich würde unter dem Aspekt der menschlichen Lebensgestaltung keine Trennlinie ziehen zwischen Essen, Schlafen, Wohnen auf der einen und künstlerischen Ausdrucksformen auf der anderen Seite.

Lina Franken: Sobald die elementaren Bedürfnisse befriedigt sind, entscheide ich selbst, welcher kulturellen Ausdrucksform ich folge – zumindest in freien Gesellschaften und mit genügend finanziellen Mitteln. Und dann kommt natürlich auch das Moment der Produktion ins Spiel, denn wir konsumieren Kultur ja nicht nur, wir produzieren sie auch selbst, wir gehen damit kreativ um.

Birgit Recki: Wie gesagt: Die Kultur ist unausweichlich und unabdingbar, wir sind nichts ohne Kultur. Der Punkt, an dem der Mensch schon da ist, die Kultur aber noch nicht, ist ein theoretischer Nullpunkt. Man kann ihn begrifflich konstruieren, aber nachweisen kann man ihn nicht. An den Fundstellen des Feuers aus der Zeit von vor bis zu 1,7 Millionen Jahren zeigt sich zum ersten Mal der Mensch als kulturelles Wesen. Und ohne Kultur wären wir keine Menschen. Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang an den Philosophen Ernst Cassirer.

Was ist sein Beitrag zu diesem Thema?

Birgit Recki: Cassirer, dessen Gesamtausgabe in 25 Bänden wir hier in Hamburg zwischen 1997 und 2007 herausgegeben haben, gehörte 1919 bei der Gründung der Universität Hamburg zu den erstberu­fenen Ordinarien. Er hat eine Philosophie der Kultur entwickelt, seine „Philosophie der symbolischen Formen“: Der Mensch ist ein symbolisches – Symbole erzeugendes und Symbole verstehendes – Lebewesen. Demnach gibt es keine bedeutungsfreien Zonen: Schon wenn wir sprechen, wenn wir Laute mit Bedeutungen verknüpfen, ist das symbolische Gestaltungsaktivität.

Lina Franken: Da stimme ich zu – und das von Frau Recki erwähnte Feuer passt ja gut zu meinem Beispiel des Wohnens, dem Bedürfnis nach Wärme. Allerdings gibt es nicht die eine Kultur, und wenn wir nach allgemeinen Merkmalen suchen, wird es schnell stereotyp und damit gefährlich. Dann gibt es Inklusion durch Exklusion: Wir bilden Gemeinschaft, indem wir andere als nicht zugehörig erklären. Menschen sind immer mehreren Gruppen zugehörig, Kultur hat immer vielfältige Facetten.

Wenden wir uns einmal dem engeren Kulturbegriff zu: Ist ein Leben zum Beispiel ohne Musik und Theater, ohne Literatur und Film möglich?

Birgit Recki: Nicht für uns Menschen! Die Bedürfnisse, die da zum Ausdruck kommen, sind ebenso wichtig wie die elementaren Bedürfnisse – also etwa essen und schlafen. Es wäre kein menschliches Leben, wenn wir auf die Erfüllung der absolut existenziellen „Grundbedürfnisse“ beschränkt wären. In dem Fall würden ganze Dimensionen menschlicher Lebensentfaltung ausfallen. Hier kann man auch auf die empirische Erfahrung verweisen: Die Menschen legen Wert auf Musik, Theater, Film, Literatur, Mode, Sport: Es ist Zeichen einer großen Unempfindlichkeit zu behaupten, darauf könnte man verzichten und sich auf das „Wesentliche“ konzentrieren.

Wenn in der Schule mal der Kunst- oder Musikunterricht ausfällt, gilt das vielen als nicht so schlimm. Hauptsache der Mathematik- oder Englischunterricht findet statt. Warum ist das so?

Lina Franken: Die Schule prägt Kultur und ist durch Kultur geprägt. Es ist eine gesellschaftliche Setzung, dass wir Mathematik oder Englisch höher bewerten als Kunst und Musik. Das war ja nicht immer so: Die sogenannten schönen Künste hatten im Kanon der klassischen bürgerlichen Bildung mal einen viel höheren Stellenwert als heute. Aber die von Ihnen beobachtete Setzung wird tatsächlich immer stärker, weil wir ein leistungsorientiertes Bildungssystem haben, in dem es vor allem um Messbarkeit geht. Nun ist der Musikunterricht erheblich schlechter quantifizierbar als der Mathematikunterricht. Zudem geraten die Schulen immer mehr unter Druck, weil erwartet wird, dass sie beispielsweise für gute Pisa-Ergebnisse sorgen. Eine verkürzte Schulzeit verschärft die Situation zusätzlich.

Birgit Recki: Interessant wird es für viele realitätstüchtige Menschen dann, wenn die Gagen einer Primadonna, eines berühmten Dirigenten oder der Auktionswert von zeitgenössischen Kunstwerken zum Thema werden. Dann wird die brotlose Kunst plötzlich mit anderen Augen angesehen – mit Respekt. Da könnte man ja ansetzen ...

Der Kulturetat des Bundes und der Länder ist traditionell vergleichsweise niedrig. Was sagt das aus?

Birgit Recki: Natürlich besteht hier eine Schieflage, eine Unverhältnismäßigkeit. Verglichen mit anderen Positionen in den Haushalten geht es beim Kulturetat um Peanuts, aber über die wird dann so erbittert gestritten ... Da bleibt uns eine wichtige Kulturtechnik nicht erspart: Wir müssen argumentieren und uns Gehör verschaffen.

Lina Franken: Die staatliche Kulturförderung ist ja nur ein Baustein. Menschen sind sehr kreativ darin, sich Möglichkeit zu schaffen, wenn ihnen Dinge am Herzen liegen. Denken Sie nur einmal an das Beispiel des Crowdfundings. Wenn es für sie wirklich bedeutsam ist, dann suchen sich Menschen auch Ausdrucksformen. Das soll aber keine Entschuldigung für Einsparungen bei der Kulturförderung sein, ganz im Gegenteil: Es bedarf spezifischer Fähigkeiten, um ein System wie Crowdfunding erst einmal aufzusetzen. Das sollte auf gar keinen Fall Zugangsvoraussetzung sein, sondern offene Angebote müssen weiter gefördert werden.

Welche Bedeutung hat Kultur für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Birgit Recki: Nehmen Sie die Eröffnung der Elbphilharmonie: Da wurde das Konzert nach draußen übertragen. Ein Beispiel für ein Erlebnis, bei dem auch Begeisterung, ein Gemeinschaft stiftender Enthusiasmus aufkommen kann.

Lina Franken: Wir müssen in diesem Zusammenhang gar nicht an die Elbphilharmonie denken. Gehen Sie mal nach einem gewonnenen Heimspiel durch St. Pauli. Da erleben Sie ein geradezu erhabenes Gemeinschaftsgefühl – auch eine kulturelle Ausdrucksform.

Es gibt den Satz „Wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder“. Stimmt das?

Birgit Recki: Nein, das ist eine zu starke Vereinfachung. Man muss schon auch hinhören, was da gesungen wird.

Lina Franken: Vielleicht geht es dabei gar nicht so konkret um das Singen, sondern vielmehr um das Miteinander, die Gemeinschaft. Hier, in diesem Sprichwort, ist es auf das Singen reduziert, um es gut erinnern zu können, das ist typisch für Redensarten. Der Chorgesang gehört ja nicht umsonst zum immateriellen Kulturerbe, das die deutsche Unesco-Kommission gelistet hat. Es geht um eine Gemeinschaft, die sich an Regeln hält. Jeder ist dabei ein Rädchen im Getriebe, ist Teil des großen Ganzen, das nur funktioniert, wenn alle mitmachen. Die Unesco hat erkannt, dass der Begriff des Weltkulturerbes geweitet werden muss. Nur der Kölner Dom oder die Hamburger Speicherstadt erklären uns noch nicht genug über die Menschheit, wichtig sind auch Kulturtechniken, an die man vielleicht nicht sofort denkt, etwa die Praxis, wie bestimmte Gewässer zu befischen sind, um nachhaltig zu wirtschaften – oder die Idee der Zusammenarbeit in Genossenschaften. Da geht es dann um das immaterielle Kulturerbe, um Praktiken, die mit speziellem Wissen ausgeübt und zwischen den Generationen vermittelt werden.

Es wird immer wieder über die Möglichkeit kultureller Teilhabe diskutiert. In Hamburg gibt es Planungen, künftig einmal im Monat die staatlichen Museen für alle kostenlos zu öffnen. Was halten Sie davon?

Birgit Recki: Das ist ein wünschenswerter Anfang. So auch, dass der damalige Erste Bürgermeister Olaf Scholz bei der Eröffnung der Elbphilharmonie erklärt hatte, jedes Hamburger Kind solle in seiner Schulzeit mindestens ein Konzert in diesem Haus erleben. Wichtig ist, dass tatsächlich alle partizipieren können.

Lina Franken: Es ist aber auch wichtig zu verstehen, dass nicht jeder ins Museum oder in die Elbphilharmonie möchte. Deshalb sollte es ein vielfältiges Angebot geben.

Sind Menschen mit einem reichen kulturellen Leben glücklicher?

Lina Franken: Das lässt sich so nicht sagen, denn dazu sind die Menschen zu unterschiedlich. Es muss übrigens auch keine kulturpolitisch geförderte Kultur sein, die mich glücklich macht. Es ist auch eine kulturelle Artikulation, wenn sich jemand abends eine Flasche Bier aufmacht und vor den Fernseher setzt. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Kultur von Machtverhältnissen bestimmt ist, Teilhabe ist auch durch gesellschaftliche Normen bedingt. Aber kulturelle Gemeinsamkeiten wie etwa das Bedürfnis nach Kommunikation zeigen auch menschliche Grundbedürfnisse. Wer jeden Abend allein zu Hause sitzt, ist auch bei reichhaltigem kulturellen Angebot wahrscheinlich nicht glücklich.

Birgit Recki: Die Frage ist, was „reich“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Aber grundsätzlich gilt: Kultur ist eine Glückschance.

Die Experten

Birgit Recki arbeitet seit 1997 als Professorin für Philosophie an der Uni Hamburg, seit 2014 auch als Mit­-Direktorin des Warburg-Hauses. Von 1997 bis 2009 leitete sie die Ernst-­Cassirer-Arbeitsstelle. Gegenwärtig beschäftigt sich die Kant-­Kennerin mit dem Thema „Technik als Form der Freiheit“.

Dr. Lina Franken ist seit 2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Uni Hamburg. Sie promovierte 2017 an der Uni Regensburg zum Thema „Kulturen des Lehrens. Akteure, Praxen und Ordnungen in der Schulbildung“. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Bildungskulturen und -politik, Immaterielles Kulturerbe sowie Arbeits- und Nahrungskulturen.

Die Serie

Jede Woche stellt das Hamburger Abendblatt eine der 100 großen Fragen des Lebens: Was ist Glück? Was ist gerecht? Wie viele Informationen braucht man? Beantwortet werden diese Fragen im Gespräch mit Professoren und Experten der Universität Hamburg, die in diesem Jahr 100 Jahre alt wird. Die Gespräche werden jeden Sonnabend veröffentlicht. An­hören kann man sie sich zudem in voller Länge im Internet auf www.abendblatt.de.

In der nächsten Folge am kommenden Sonnabend wird es um diese Frage gehen: Werden wir immer mobiler?